Prozess in Den Haag:Lange Schatten des Kosovo-Kriegs

Lesezeit: 2 Min.

Der ehemalige kosovarische Präsident, Hashim Thaçi, steht in Den Haag vor Gericht. Ihm werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. (Foto: Koen van Weel/AFP)

Nach fast 25 Jahren stehen Mitglieder der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK vor Gericht. Ihnen wird Mord und Folter vorgeworfen. Ex-Präsident Thaçi beteuert seine Unschuld.

Von Florian Hassel, Belgrad

In Den Haag hat ein lang erwarteter Prozess wegen angeblicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Ende der Neunzigerjahre in Kosovo begonnen. Hashim Thaçi, in dieser Zeit Kommandeur der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK) im Kampf gegen Serbien, und drei weitere damals hochrangige UÇK-Mitglieder (Kadri Veseli, Rexhep Selimi und Jakup Krasniqi) sind angeklagt, 1998 und 1999 im damaligen Guerillakrieg gegen Serbien für 102 Morde und das Verschwindenlassen von mindestens 20 weiteren Menschen verantwortlich zu sein.

Der Prozess findet vor einem eigens geschaffenen Gericht ("Kosovo Specialist Chambers") statt und wird seinem Vorsitzenden Richter zufolge etliche Jahre dauern. Gehört werden sollen unter anderem 140 Opfer der mutmaßlichen Verbrechen. Im 2008 unabhängig gewordenen Kosovo, das ehemals zu Jugoslawien beziehungsweise Serbien gehörte, starben während serbischer Unterdrückung und eines Guerillakrieges Ende der 90er Jahre schätzungsweise über 13 000 Menschen. Die meisten von ihnen waren ethnische Albaner, die von Serben ermordet wurden oder verschwanden. 2005 aber fanden Ermittler der UN auch ein Massengrab mit serbischen Opfern.

In früheren Prozessen wurden Zeugen massiv eingeschüchtert

Ende 2010 berichtete Dick Marty, ein Schweizer Parlamentarier, für den Europarat über Verbrechen, die auch durch Kämpfer der für die Unabhängigkeit Kosovos von Serbien kämpfende UÇK begangen wurden. Eine weitere Untersuchung der Europäischen Union kam zum Schluss, es lägen ausreichend Anhaltspunkte für eine juristische Verfolgung dieser mutmaßlichen Verbrechen vor.

Erste Prozesse gegen ehemalige kosovarische Guerilla-Führer vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag standen im Zeichen massiver Einschüchterung von Zeugen im mittlerweile von den ehemaligen UÇK-Führern regierten Kosovo. Zwei Angeklagte wurde in kritisierten Urteilen freigesprochen.

Auf Druck aus Brüssel und Washington stimmte das Parlament Kosovos 2015 zu, ein weiteres, mit internationalen Juristen besetztes Sondergericht zu schaffen. Es hat seinen Sitz ebenfalls in den Niederlanden. 2020 klagte es Hashim Thaçi, damals Präsident Kosovos, und drei seiner ehemaligen UÇK-Gefährten an.

Die Angeklagten sollen gemordet und gefoltert haben

Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, als politischer Führer der UÇK (Thaçi), Geheimdienstchef (Veseli) und in anderen Positionen (Selimi, Krasniqi) für Mord und Folter, Einschüchterungen und Verschwindenlassen an mindestens 39 Orten in Kosovo und dem Norden Albaniens verantwortlich zu sein. Ermordet wurden der Anklage nach sowohl in Kosovo lebende Serben als auch Albaner, Roma und Angehörige anderer Minderheiten, die nicht mit der UÇK übereinstimmten.

Während die Verteidigung der vier Angeklagten, die jede Schuld bestreiten, behauptet, die UÇK sei eine unkoordinierte "Graswurzel-Bewegung" gewesen und keine Armee mit einer gut strukturierten, von oben nach unten befehlenden Kommandostruktur, will die Staatsanwaltschaft das Gegenteil belegen. Die Staatsanwälte gaben an, ihre Beweisführung bis 2025 abschließen zu wollen; der Vorsitzende Richter Charles Smith dagegen sagte bei einer Anhörung vor Prozessbeginn, allein die Beweisaufnahme könne ohne Maßnahmen zur Verkürzung sechseinhalb Jahre dauern.

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Die Regierungen Kosovos haben eigene Verbrechen während des Unabhängigkeitskrieges ebenso wenig gründlich aufgearbeitet wie Nachbar Serbien die eigenen, noch wesentlich zahlreicheren Verbrechen in Kosovo unter der Herrschaft des Autokraten Slobodan Milosevic. So sehen die die Bevölkerungsmehrheit stellenden Albaner das Den Haager Sondergericht als angeblich politisiert und ungerecht.

Medien in Kosovo berichten kaum über die Details der Anklage; stattdessen kommt es zu Sympathiekundgebungen mit den als Helden empfundenen Angeklagten, an denen Tausende teilnehmen. Noch in Kosovo lebende Serben wie die von Reuters interviewte Olgica Bozanic dagegen, deren Brüder Todor und Lazar und fünfzehn weitere Verwandte 1998 ermordet wurden, sehen den Prozess als Schritt zur Gerechtigkeit.

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