Kosovo:Der lange Schatten des Krieges

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Kriegsopfer: Ein albanischer Junge aus dem Kosovo trägt im Jahr 1998 ein erschöpftes Kind, das zusammen mit anderen Flüchtlingen versucht hatte, den Kämpfen zu entkommen. (Foto: Yannis Behrakis/Reuters)

Vor 20 Jahren griff die Nato in den Konflikt um Kosovo ein. Heute will das Land ebenso wie Serbien in die Europäische Union. Vorher sollen die beiden Staaten ihren Streit beilegen - die Widerstände sind groß.

Von Peter Münch, Račak/Gračanica

Die Gräber ziehen sich den Hügel hoch, ein jedes geschmückt mit Kranz und Plastikblumen. 44 Menschen sind hier zur letzten Ruhe gelegt worden, 44 Reliefgesichter sind eingraviert auf der geschwungenen Marmorwand am Eingang des neuen Friedhofs von Račak, versehen mit Namen, Geburts- und Todesdatum. Das lautet gleich bei allen, es ist der 15. Januar 1999. "Für die Märtyrer der Nation" steht auf der Gedenkwand, "massakriert von Serben in barbarischer Grausamkeit."

Auf dem Gräberfeld liegt auch ein Onkel von Adem Ramadani, 43. Unübersehbar thront der Gedenkort über dem 1600-Einwohner-Dorf. Wer Račak hört in Kosovo, der denkt an Leichen - und an Kampfflugzeuge. "Was hier passiert ist, das war der entscheidende Grund für die Nato zum Eingreifen", sagt Ramadani. "Wegen Račak sind wir frei."

Genau 20 Jahre ist es an diesem Sonntag her, dass die Nato in den Krieg um Kosovo eingegriffen hat. Mit einem 78 Tage dauernden Bombardement hat das westliche Militärbündnis die Truppen des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević zum Rückzug aus der mehrheitlich von Albanern bewohnten abtrünnigen Provinz gezwungen. Dies verhalf der sogenannten Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) zum Sieg. Mehr als 800 000 Kosovo-Albaner waren zeitweise auf der Flucht, mehr als 10 500 Albaner und 2100 Serben sind in dem Krieg gestorben. Und die Leichenfunde von Račak im Januar 1999 waren das Fanal für diesen Krieg. Es war, so sagt es der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer, "der Wendepunkt".

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Wie alles im Krieg, in dem die Wahrheit stets zu den Opfern zählt, sind auch die Ereignisse von Račak bis heute heftig umstritten. Die dort gefundenen Leichen seien im Kampf getötete UÇK-Kämpfer, hatte die Belgrader Führung sofort behauptet. Allerdings sind unter den Opfern auch drei Frauen, ein Kind und zahlreiche alte Männer. William Walker, der damals die in Kosovo stationierte Beobachtermission der OSZE anführte, sprach gleich von einem "Massaker" und einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". In Račak haben sie den schnauzbärtigen Walker dafür mit einer überlebensgroßen Bronzestatue geehrt, direkt neben dem Friedhof. "Einmal im Jahr kommt er hierher", sagt Adem Ramadani, "er ist unser Retter."

Die Regierungen in Belgrad und Pristina haben das gleiche Ziel

Vieles ist passiert in den 20 Jahren seit dem Krieg: Milošević starb 2006 in einer Gefängniszelle des Haager Kriegsverbrechertribunals. Kosovo ist seit 2008 ein eigener Staat, anerkannt von 115 Nationen. Doch gelöst ist der Konflikt bis heute nicht. Auch die neuen Führer in Belgrad pochen noch darauf, dass Kosovo zu Serbien gehört. Zwischen den festgefrorenen Fronten stehen noch rund 3500 Soldaten der Kfor-Friedenstruppe.

Dabei haben die Regierungen in Belgrad und in Pristina erklärtermaßen das gleiche Ziel: Sie wollen beide ihre Länder in die Europäische Union führen. Doch die EU verlangt vorher die Lösung aller Streitigkeiten und eine gegenseitige Anerkennung. 2013 wurde dazu zwar in Brüssel ein "Normalisierungsabkommen" unterzeichnet. Aber auf einen Durchbruch wartet die Welt bislang vergeblich.

Für Bewegung sorgt allein ein Vorschlag, der die bisherige Balkan-Politik des Westens auf den Kopf stellen würde. Es geht um einen Gebietstausch, vorsichtiger formuliert eine Grenzkorrektur. Dabei könnten der serbisch besiedelte Norden Kosovos der Republik Serbien zugeschlagen werden und im Gegenzug von Albanern bewohnte Gebiete in Südserbien an Kosovo fallen. Sowohl der serbische Präsident Aleksandar Vučić als auch Kosovo-Präsident Hashim Thaçi haben verklausuliert Signale in Richtung einer solchen Lösung gegeben. Doch in beiden Ländern gibt es heftigen Widerstand.

Eine einsame Stimme im kosovarischen Parlament

Gespalten hat sich in dieser Frage auch der Westen: So warnt vor allem die deutsche Regierung eindringlich davor, dass eine Veränderung der Grenzen in Kosovo neue Konflikte in anderen multi-ethnischen Balkanstaaten wie Bosnien oder Nordmazedonien auslösen könnte. Unterstützt wird eine solche Lösung dagegen von EU-Außenkommissarin Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn - und neuerdings auch von den USA. Der Bruch mit allen bisher geltenden Regeln wäre schließlich ein Deal ganz nach dem Geschmack von Donald Trump.

In seinem Abgeordnetenbüro in Pristina aber sitzt Slobodan Petrović und beschwört die Einheit Kosovos, wo unter knapp zwei Millionen Albanern immer noch etwa 120 000 Serben leben. Petrović ist einer von zehn serbischen Abgeordneten im kosovarischen Parlament, er vertritt die Liberale Partei, und er ist eine einsame Stimme. Denn die anderen neun serbischen Abgeordneten gehören zu der von Vučić gesteuerten Serbischen Liste, und für Petrović sind sie allesamt "Gauner" und "Lügner". Er fühlt sich von Belgrad verraten, wo auf eine Spaltung Kosovos gesetzt werde. "Dabei müssen wir zusammenleben mit den Albanern", sagt er, "wir haben doch alle die gleichen Probleme, keine Jobs zum Beispiel."

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Petrović lebt in Gračanica, einer serbischen Enklave rund zehn Kilometer von Pristina entfernt. Hier sind die Schilder auf Kyrillisch, die Straßen sind nach serbischen Helden benannt, und aus dem Geldautomaten kommen serbische Dinar statt Euro, mit denen sonst in Kosovo bezahlt wird. Im Zentrum von Gračanica steht ein orthodoxes Kloster, 14. Jahrhundert, mit fünf Kuppeln. Im Innern gibt es beeindruckende Fresken, seit 2006 zählt das Kloster zum Unesco-Kulturerbe, doch dort steht es auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes. Rund ums Kloster herrscht eine bedrückende Stimmung. "Bei einer Abtrennung des serbischen Nordens werden wir unsere Minderheitenrechte verlieren", glaubt Petrović, "dann müssen wir hier um unsere Sicherheit fürchten."

So wirft der Krieg nach 20 Jahren immer noch lange Schatten in Kosovo - auf die Serben in Gračanica, auf die Albaner in Račak. Dort steht Adem Ramadani an den Gräbern und spricht bei aller Trauer auch vom "Stolz auf unser Opfer". Fragt man ihn aber, ob sich die Hoffnungen erfüllt haben, für die dieses Opfer gebrachte wurde, dann wird er still und schüttelt den Kopf. "Wir sind der Nato dankbar für unsere Freiheit", sagt er. "Aber alle, die danach an die Macht kamen, haben uns nur Korruption gebracht."

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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