Süddeutsche Zeitung

Kosovo:An den Grenzen des Hasses

Vor zwei Jahren erklärte das Kosovo seine Unabhängigkeit. Jetzt wird der Internationale Gerichtshof beurteilen, ob das rechtens war. Die Entscheidung birgt die Gefahr, dass auf dem Balkan alte Wunden wieder aufreißen.

Enver Robelli

Sogar Recep Tayyip Erdogan griff kürzlich zum Telefon für den Kosovo. Der türkische Regierungschef sieht sich als Lobbyist der kosovo-albanischen Glaubensbrüder und fordert immer wieder befreundete Staaten auf, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Darum rief Erdogan den pakistanischen Kollegen Yousuf Raza Gilani an und bat ihn, diplomatische Beziehungen mit dem Kosovo aufzunehmen. Gilani ließ sich aber nicht umstimmen. Pakistan, sagte der Premier, werde mit der Anerkennung des Kosovo warten, bis der Internationale Gerichtshof (IGH) sein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung veröffentliche.

An diesem Donnerstag wird es so weit sein. Knapp zweieinhalb Jahre nach der Abspaltung des Kosovo von Serbien werden die IGH-Richter in Den Haag die Weltöffentlichkeit informieren, ob der Schritt der Kosovo-Albaner im Einklang mit dem Völkerrecht steht. Das Verfahren vor dem IGH hatte Serbien nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 angestrengt. Die UN-Generalversammlung nahm eine von Serbien eingebrachte Resolution an, welche die Einholung eines Rechtsgutachtens beim IGH fordert. Im vergangenen Dezember präsentierten mehrere UN-Mitgliedsstaaten vor dem IGH ihre Argumente. Belgrad wurde von Russland, China, Venezuela und Bolivien unterstützt. Der Kosovo erhielt Rückendeckung von den meisten EU-Staaten, von den USA und drei Balkanländern (Albanien, Bulgarien und Kroatien).

Es prallen zwei Denkschulen aufeinander. Einige Völkerrechtler meinen, es gebe keinen anerkannten Anspruch auf Sezession. Diese sei ohne Einwilligung der Konfliktparteien und der Vereinten Nationen unzulässig. Dieser Meinung sind zum Beispiel der Frankfurter Völkerrechtler Michael Bothe und der Potsdamer Juraprofessor Andreas Zimmermann, der vor dem IGH die Interessen Serbiens vertritt. Die Befürworter der Unabhängigkeit argumentieren, dass bei genozid-artigen Verfolgungen, wie sie den Kosovo-Albanern widerfuhren, eine Autonomie innerhalb des bisherigen Staates unmöglich sei. Also seien die Kosovo-Albaner von den Serben in die Unabhängigkeit getrieben worden. Diese sei deshalb rechtmäßig.

Die meisten Völkerrechtler rechnen damit, dass der IGH eine ausgewogene Meinung äußern wird. Tatsächlich hat die UN-Justiz seit 1945 keine Unabhängigkeitserklärung annulliert. Zudem ist das IGH-Gutachten rechtlich nicht bindend. Im Völkerrecht gibt es keinen Gerichtsvollzieher, sollte der Gerichtshof die Unabhängigkeitserklärung als unrechtmäßig sehen. Die Richter werden sich aber hüten, eine eindeutige Stellungnahme abzugeben. Einerseits wollen sie keinen Präzedenzfall schaffen, der andere Minderheiten auf die Idee bringen könnte, sich abzuspalten. Andererseits werden sie kaum abstreiten können, dass die Abspaltung des Kosovo angesichts der serbischen Apartheid-Politik in den neunziger Jahren unabwendbar war.

Mit seiner juristischen Offensive hat Serbien gleichwohl einen Erfolg erzielt. Seitdem das IGH-Verfahren läuft, ist der Anerkennungsprozess fast zum Stillstand gekommen. Bisher haben nur 69 Staaten diplomatische Beziehungen mit dem Kosovo aufgenommen. Serbische Politiker zeigen sich zuversichtlich, dass das Urteil zu ihren Gunsten ausfallen werde. Dann, so die Hoffnung Belgrads, sollen neue Verhandlungen über eine "einvernehmliche Lösung" der Kosovo-Frage stattfinden. Wie diese Lösung aussehen soll, wird nicht erklärt.

In Serbien häufen sich Stimmen, die eine Teilung fordern: Der von Belgrad kontrollierte Norden des Kosovo mit der geteilten Stadt Mitrovica solle bei Serbien bleiben, die serbischen Enklaven und Kirchen im Süden sollen einen exterritorialen Status erhalten. Kosovo-albanische Politiker warnen, eine Teilung öffne die Büchse der Pandora auf dem Balkan. Dann könnten auch die Albaner in Südserbien und in Mazedonien eine Vereinigung mit dem Kosovo verlangen. EU-Diplomaten plädieren vorsichtig für eine Autonomie des Nordens; eine Teilung wird offiziell abgelehnt.

Beobachter fürchten, die Regierung von Ministerpräsident Hashim Thaci könne kaum die Interessen des Kosovo vertreten, falls der Westen beide Seiten zu neuen Verhandlungen zwingt. Die meisten Mitglieder seines Kabinetts gelten als korrupt und diplomatisch unerfahren. "Die Korruption und die organisierte Kriminalität gefährden die Zukunft und die Unabhängigkeit des Kosovo", sagte der US- Politologe David Phillips in Pristina. Phillips ist Autor einer neuen Studie, die zu dem Schluss kommt, Thacis illegaler Geheimdienst und die Mördertruppe SHIK kassierten jährlich 200 Millionen Dollar durch Erpressung, Raub und Korruption.

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SZ vom 22.07.2010/segi
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