Kosovo:Am Tropf Europas

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Vor 15 Jahren endete der Kosovokrieg, vor sechs Jahren wurde der Kosovo unabhängig. Doch das Land hängt noch immer am Geldhahn der EU, mit abgeschobenen Flüchtlingen weiß der junge Staat nichts anzufangen. Zu Besuch bei zwei zurückgekehrten Familien.

Von Caroline von Eichhorn und Christoph Behrens, Prizren

Der Fiat rast eine schlammige Piste entlang, der Weg geht steil den Hang hinauf. Am Fenster ziehen unvollendete Bauten vorbei, Bruchbuden ohne Fensterscheiben, Betongerippe. Am Ende der Straße in der Kleinstadt Prizren im Kosovo stoppt Dursime Arbeneshi den Wagen. Sie arbeitet für den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Prizren und deutet auf einen kleinen Verschlag aus roten Ziegeln. Darauf steht "Funded by the German Foreign Ministry" - finanziert vom deutschen Außenministerium.

Auf diesen 30 Quadratmetern lebt die Roma-Familie Avdo. Sohn Erdin öffnet die Tür und führt ins Wohnzimmer. "Es ist die Katastrophe", sagt der 35-Jährige und lässt sich auf die alte Matratze auf dem Boden sinken, auf der er nachts schläft. "Keine Arbeit, keine Zukunft, kein gar nichts." Mit Schrecken denkt er an den Tag ihrer Abschiebung aus Deutschland zurück.

Erdin erinnert sich gut daran: Sie waren Asylbewerber im bayrischen Sonthofen. Eines Abends kam sein Vater Mitat betrunken nach Hause, die Zeche hatte er geprellt. Am nächsten Morgen stand die Polizei vor der Tür. Mutter Ajshe meldet sich zu Wort: "Zwei Wochen hatten wir Zeit, unsere Koffer zu packen."

Das alles ist drei Jahre her, doch in der Erzählung der Familie klingt es, als wäre es gestern gewesen. Katastrophe, Katastrophe, Katastrophe - in fast jedem Satz von Erdin fällt dieses Wort. Er kam schon als Kind nach Deutschland, doch die Schule besuchte er nur sporadisch. "Der Weg war so weit", sagt er achselzuckend. Das rächt sich nun: Ohne Schulabschluss ist es im Kosovo noch schwerer, einen Job zu finden. Erdin sammelt alte Dosen und verkauft sie, um zu überleben. Sonst bleibt der Familie nur die Rente des Vaters - 75 Euro überweist die Regierung in Pristina ihnen jeden Monat.

Deutschland ist omnipräsent - finanziell und in den Köpfen der Menschen

Dursime Arbaneshi vom ASB kennt viele solcher Geschichten von missglückten Heimkehrern in den Kosovo. Etwa 2000 Unterkünfte hat die Organisation mit Hilfsgeldern der Bundesregierung errichtet, meist für Roma. "Sie sind leider ein bisschen selbst schuld", sagt Arbaneshi, als sie den Fiat zurück in Richtung Innenstadt steuert. Der Vater habe den deutschen Behörden durch die geprellte Zeche einen leichten Vorwand geliefert, der Sohn sich vermutlich nicht genügend um Arbeit gekümmert. Sie zuckt mit den Achseln. Die Eigenheime sollen die Familien nun anspornen, hier etwas aufzubauen.

Doch das System funktioniert schlecht. Familie Avdo hat es nach zwei Jahren nicht einmal geschafft, die Außenwände selbst zu streichen. "Wir bauen ihnen ein Haus, um den Rest müssen sie sich schon selbst kümmern", sagt Arbaneshi.

Auf der Fahrt zum Büro des ASB in Prizren sind viele solcher Schilder zu sehen: "This project was funded by the EU", "sponsored by the German federal government". Schwarz-rot-goldene Flaggen wehen von den Balkons, im Fernsehen laufen deutsche Dauerwerbesendungen, viele drücken bei der Fußball-WM der DFB-Elf die Daumen. Im Auto stottert Bundeswehr-Radio, Restaurants servieren "Kfor-Burger". Selbst den touristischen Stadtplan, der die wenigen Sehenswürdigkeiten Prizrens verzeichnet, haben EU-Steuerzahler finanziert.

15 Jahre ist es nun her, dass Bundeswehr und Nato die serbische Armee aus dem Kosovo vertrieben, und so die ethnischen Gräuel unter der Bevölkerung stoppten. Bis heute werden die Kfor-Soldaten dafür von den Einheimischen verehrt. Während der Jugoslawien-Kriege und des Kosovokonflikts in den neunziger Jahren war die Bundesrepublik ein sicherer Hafen für Flüchtlinge. Bis zu 400 000 Kosovaren fanden in Deutschland Zuflucht. Seit die Bundesregierung und der Kosovo 2010 ein sogenanntes Rücknahmeabkommen unterzeichnet haben, müssen Tausende unfreiwillig zurück - in den vergangenen vier Jahren schob Deutschland 1969 Menschen in den Kosovo ab.

Das Geld aus Brüssel und anderen EU-Hauptstädten ist im Kosovo willkommen, doch mit Heimkehrern wie den Avdos weiß das Land mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern wenig anzufangen. "Wenn sie teilweise nach Jahrzehnten zurückkommen, ist ihr soziales Netz dahin", sagt die Chefin des ASB-Büros, Dafina Hoxha. Besonders die Roma finden sich nicht mehr zurecht. Früher spielten sie auf jeder Hochzeit Musik, schmiedeten Hufeisen, schlugen Blechplatten, flickten Kessel. Es sind Berufe aus einer anderen Zeit. Für Brautpaare spielt heute der Synthesizer.

Um die Heimkehrer kümmern sich nur Hilfsorganisationen. Die haben es nicht leicht, in der maroden Infrastruktur Hilfe zu leisten. Während des Besuchs im ASB-Büro geht plötzlich das Licht aus. Für die Kosovaren sind Stromausfälle normal, immer liegt eine Taschenlampe bereit. Dazu müssen sich die Hilfsorganisationen mit einer ineffizienten und bestechlichen Regierung herumschlagen. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International liegt der Kosovo auf Rang 111, nur Albanien und Weißrussland schneiden in Europa schlechter ab. Auch die EU-Mission Eulex konnte an diesen Zuständen in fünf Jahren kaum etwas ändern.

Der Sozialarbeiter Isen Bobaj von der Arbeiterwohlfahrt hat selbst viele Projekte im Kosovo betreut. Auf ein interkulturelles Jugendzentrum im angespannten Norden ist der Familienvater besonders stolz. Serben, Albaner, Roma spielten hier zusammen Fußball, schwärmt er in perfektem Deutsch. Die Jugendlichen sammelten auch Müll ein, im Grenzland zwischen Kosovo und Serbien. Ein Projekt mit Zukunft, sagt er und ergänzt: "Aus Mangel an finanzieller Unterstützung eingestellt." Bei vielen anderen Projekten lief es ähnlich. Der Familienvater plant nun ein Theater auf Stelzen für Jugendliche, inszeniert vom Münchner Regisseur Peter Pruchniewitz. Im Juli wollen sie Premiere feiern.

Isen Bobaj ist zugleich der Beweis, dass ein anderer Kosovo möglich ist. Mit seinem Minibus fährt er aus Prizren heraus, an der Kaserne der Bundeswehr vorbei, in einen Vorort. Vor einem dreistöckigen weißen Bau mit Balkon und großen Fenstern stoppt er. Das Haus seiner Familie, sagt er stolz. Seine Frau führt hier eine kleine Schneiderei, hinten im Garten arbeitet Bobajs Vater Shaban mit einem seiner Söhne.

Der schwarze Mercedes mit Böblinger Kennzeichen vor der Garage verrät, wie eng auch hier die Verbindungen nach Deutschland sind. Isen Bobajs Vater Shaban, heute 65, arbeitete jahrzehntelang bei Daimler Benz. Schon in den Achtziger Jahren demonstrierte er in Bonn für einen unabhängigen Kosovo. Isen folgte ihm 1994 nach und fing bei einem Maschinenbauer an. Sie verdienten gut. Als der Krieg 1999 vorbei war, kamen sie freiwillig zurück. "Ich wollte mein Land aufbauen", sagt Isen Bobaj.

Die Jugend träumt von Westeuropa

Das ganze Land hat er nicht geschafft, doch bei seiner Familie sieht es gut aus. Vier Generationen hat er in seinem Haus versammelt: Neben seinem Vater Shaban wohnt hier auch sein 90-jähriger Großvater, dazu kommen seine Frau, zwei Söhne und eine Tochter. Bis auf seine Kinder wurde jede Generation in irgendeiner Form von den Serben unterdrückt, durfte nicht arbeiten, wurde beschossen oder musste fliehen. Bis die Bundeswehr kam, bis Deutschland kam, bis die Unabhängigkeit kam.

Lange hatten sie dafür gekämpft: Isen Bobaj wurde in den achtziger Jahren von der Geheimpolizei Jugoslawiens verprügelt, als er für einen unabhängigen Kosovo demonstrierte. 1999 beschoss Serbiens Armee Verwandte, die sich im Wald versteckten. Jetzt sitzt die Familie gemeinsam auf dem Sofa. "Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben", sagt der Vater. Auch hier ist es ein Erfolg, der eng mit Deutschland verbunden ist. Den Kredit für das Haus gab eine deutsche Bank; seinen Job im Kosovo fand Isen bei einer deutschen Hilfsorganisation.

Sohn Arianit ist der erste, dessen Existenz im Kosovo politisch nicht gefährdet ist. Ihm bereitet eher die Wirtschaft Sorgen. Die meisten Jugendlichen sehen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit keine Perspektiven. Laut einem Bericht von USAid ist die Arbeitslosenquote nach der Wirtschaftskrise auf 45 Prozent angestiegen - unter Jugendlichen liege sie bei 70 Prozent.

Die meisten Jugendlichen wollen nach London oder in eine andere westeuropäische Stadt, am besten irgendwo in Deutschland. Arianit hingegen will hier bleiben. Der 15-Jährige hat Pläne für eine Zukunft in seiner Heimat: "Ich möchte etwas mit Umweltschutz in Kosovo machen", sagt er. "Da werde ich gebraucht."

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