Süddeutsche Zeitung

Kosovaren auf der Flucht:Sie wollen träumen dürfen

  • Tausende Kosovaren reisen derzeit in Hoffnung auf Asyl nach Deutschland. Gerüchte, Deutschland nehme arbeitswillige Menschen auf, halten sich hartnäckig.
  • Die kosovarische Präsidentin Atifete Jahjaga ruft die Menschen auf, im Kosovo zu bleiben.
  • Viele Menschen haben sich für die Reise nach Deutschland verschuldet. Sie haben kaum Aussichten, Asyl zu bekommen. Werden sie zurückgeschickt, wird ihre Situation noch schwieriger sein.

Von Florian Hassel, Vushtrri

Bis vor kurzem war das Haus der Gërxhalius der Sitz einer typischen Großfamilie in Kosovo. Sechs Brüder und ihre Frauen gingen ein und aus, Scheune und Hof waren erfüllt vom Geschrei ihrer spielenden Kinder.

Doch Mitte Januar kehrten Leere und Stille ein ins Gërxhaliu-Haus im Dorf Studime, 30 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Priština: Da machten sich gleich 14 Gërxhalius auf den Weg nach Deutschland. Zurück blieben der alte Vater und ein Sohn. Jetzt durchdringt auf dem Hof nur noch das Geblöke einer Kuh die Stille.

Seit Jahren hatte niemand in der Familie einen Job

Die Gërxhalius haben auch gute Zeiten erlebt - doch die sind lange her. Als Kosovo noch Teil von Jugoslawien war, arbeitete Vater Abedin beim Elektrizitätswerk - und zeugte neun Söhne. Seitdem der Vater 2001 in Rente ging, "hatte keiner von uns je einen regulären Job", sagt der 36 Jahre alte Abit.

Gleichwohl ging es der Familie besser als anderen. Sie hatte ein großes Stück Land und einige Kühe. Und sie wurde von drei Brüdern unterstützt, die schon vor 15 Jahren vor dem Krieg geflohen sind und in Finnland und Frankreich leben.

Als Kosovo unter UN-Verwaltung kam, kauften die Gërxhalius drei alte Lastwagen. Transport, so dachten sie, werde immer gebraucht. Sie fuhren Kohle für das Elektrizitätswerk oder Sand für private Hausbauer aus. Doch der Boom war bald vorbei. Die Wirtschaft im ärmsten Land Europas wuchs zu schwach, um die wachsende Bevölkerung mit Jobs zu versorgen.

Die ehemaligen Rebellen gegen Belgrad regierten schlecht und oft korrupt. 2014 hatte Kosovo ein halbes Jahr lang weder ein Parlament noch eine richtige Regierung. Die Gërxhalius bekamen kaum noch Aufträge, konnten nicht einmal mehr die Autoversicherung bezahlen, boten ihre Lastwagen zum Verkauf an - ohne Erfolg.

Es heißt, dass die Deutschen Leute aufnehmen - oder sie nach Kanada weiterschicken

Dann, vor etwa einem Jahr, "tauchten auf kosovarischen Sites oder auf Facebook Gerüchte auf, dass Deutschland und andere Länder Arbeiter suchten", sagt Shemsedin Preteni, Sprecher der Stadt Vushtrri, zu der das Dorf Studime gehört.

Die Gerüchte wurden offenbar gezielt verbreitet. "Menschenschmuggel ist bei uns ein sehr profitables Geschäft", sagt Vushtrris Polizeichef Mohamed Alidemaj. Auch die Gërxhalius hörten, "dass die Deutschen Leute aufnehmen - oder diejenigen, die sie nicht selbst brauchen, nach Kanada weiterschicken", beschreibt Abit Gërxhaliu.

Gerüchte sind die eine, die Realität eine andere Sache. Die 1,8 Millionen Kosovaren brauchen ein Visum für die EU, auch kamen sie mit den Papieren ihres von Serbien nicht anerkannten Staates bis vor kurzem nicht einmal über diese Grenze.

Doch von September 2014 an akzeptierte Serbien auf Druck der EU auch kosovarische Dokumente. Und Ungarn beendete seine Praxis, illegal eingereiste Asylbewerber bis zur Entscheidung über den Antrag festzuhalten. Bald fuhren die ersten Kosovaren per Bus nach Belgrad und weiter in die Grenzstadt Subotica, ließen sich über die grüne Grenze nach Ungarn schleusen und weiter nach Deutschland.

Die Zahl der beantragten Geburtsurkunden vervielfachte sich

Nachdem sie gemeldet hatten, sie würden dort gut versorgt, begann in Vushtrri der Countdown zum Exodus - zuerst im Standesamt. Dessen Mitarbeiter stellen gewöhnlich im Monat etwa 550 Geburtsurkunden aus. Doch im Dezember waren es 2647. Im Januar 3525. Und Anfang Februar "in nur vier Arbeitstagen sogar 994 Geburtsurkunden", sagt Sprecher Preteni.

Sahit Parduzi, in Vushtrri Direktor der Mittelschule Nr. 2, verabschiedete seine 1200 Schüler am 23. Dezember in die Weihnachtsferien. "Als wir am 6. Januar wieder den Unterricht aufnahmen, fehlten zehn Schüler. Am nächsten Tag wieder zwei. Schließlich blieben jeden Tag vier oder fünf weitere Schüler weg", sagt der Direktor.

Heute fehlen allein an Parduzis Schule, der größten der Stadt, 78 Schüler. "Zum Schluss verabschiedeten sich die Schüler von uns - sie müssten mit ihren Eltern wegziehen. Als sie gingen, weinten sie - alle", sagt Parduzi. An den 34 anderen Schulen von Vushtrri fehlen weitere 700 Schüler. Bisher "haben sich von den zuvor 70 000 Bürgern rund 5000 angeschlossen", schätzt der Stadtsprecher. In ganz Kosovo sind es 50 000, vielleicht auch mehr.

Auch die Gërxhalius diskutieren, was zu tun sei. "Fünfzehn Jahre haben wir gewartet, dass die Lage bei uns besser wird - jetzt ist unsere Geduld zu Ende", sagt Abit. Immer mehr Nachbarn verlassen das Dorf. Isuf, der älteste Bruder und schon einmal als Asylbewerber in Deutschland, wirbt dafür, wieder nach Deutschland zu gehen - gemeinsam.

Mitte Januar verkauft ein Bruder eine Kuh, Ersparnisse werden zusammengekratzt. Dann machen sich drei Brüder mit ihren Frauen und sechs Kindern auf, Stunden später auch der vierte Bruder. "Sie wollten nicht zurückbleiben, während andere handelten", erzählt Abit. Er selbst bleibt. "Einer muss sich ja um unseren Vater und um unser Land kümmern", sagt er. Jetzt sind die 14 Gërxhalius in der Nähe von München, haben Asylanträge gestellt und hoffen.

Die Präsidentin verkündet, Weggehen sei keine Lösung

Kosovos Präsidentin Atifete Jahjaga fährt seit Tagen durch Städte und Dörfer in Kosovo, um fernsehwirksam zu verkünden, dass "Weggehen keine Lösung ist, sondern wir unseren Staat gemeinsam aufbauen müssen". Doch als Jahjagas Konvoi aus schwarzen Jeeps und Limousinen am Donnerstag in der Stadt Mitrovica Station macht, schlagen der Präsidentin Skepsis und Wut entgegen. "Ihr habt Milliarden geklaut und denkt nur an euch!", macht ein Bürger seiner Wut Luft.

Jahjaga wird von einem Deutschen begleitet, Ernst Reichel, Sondergesandter des Auswärtigen Amtes für Südosteuropa und mit eindeutigem Auftrag unterwegs: "die Botschaft für die Menschen zu verstärken, dass es mit unbegründeten Asylanträgen in Deutschland keine Perspektive gibt und ihre Zukunft hier in Kosovo ist".

Der Massenexodus ist vorbei

Ob diese Botschaft ankommt, weiß noch niemand. Gewiss: Der Massenexodus, als allein am Busbahnhof von Priština jeden Abend etwa 500 Menschen in zehn Bussen nach Serbien und weiter in Richtung EU fuhren, ist vorbei.

Doch an einem Abend der vergangenen Woche sind es trotz bitterer Kälte immer noch 50 Menschen aus ganz Kosovo, die sich nach Deutschland aufmachen. "Wenn sich bei uns nicht schnell etwas bessert, machen sich von Frühling an noch mehr Leute auf", sagt der 60 Jahre alte Ali, der seinen 24 Jahre alten Nachbarn zum Bus gebracht hat.

Doch schnelle Besserung ist nicht in Sicht. In der 100 000-Einwohner-Stadt Mitrovica, die ebenfalls Tausende verlassen haben, schätzt Bürgermeister Agim Bahtari, dass "mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist". Der Bürgermeister hofft, bald eine Pilzzucht eines japanischen Unternehmens eröffnen zu können: mit 350 Arbeitsplätzen. Die gleiche Zahl soll 2016 dazukommen, wenn ein schwedisch-amerikanisches Unternehmen Strom aus Müll produziert. Ehrenwerte Pläne, doch bei Zehntausenden Arbeitslosen allein in Mitrovica nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Arbeitnehmer werden oft enttäuscht

Häufig werden die Kosovaren enttäuscht - wie etwa Hunderte Arbeiter der Metallfabrik Llamkos Galvasteel, bis vor einem Jahr der größte Arbeitgeber von Vushtrri. Dort sitzt ein 60 Jahre alter Gewerkschafter neben der Moschee in einem rauchgefüllten Kaffeehaus und erzählt: 2005 wurde das Unternehmen privatisiert. Drei Eigentümer haben die zuletzt 437 Arbeiter erlebt - aus Bulgarien, Indien und England.

Der Gewerkschafter erzählt von Eigentümern, die Investitionszusagen nicht einhielten oder am Wochenende ganze Lkw-Ladungen voller Produkte aus der Fabrik schafften, um sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Der letzte Besitzer zahlte seit Februar 2012 keine Löhne mehr, schickte die Belegschaft Anfang Juni 2014 in Zwangsurlaub - und sitzt nun wegen des Verdachts auf Betrug seit Dezember in Untersuchungshaft.

"Einige Kollegen sind schon ausgewandert - auch mein Sohn Desnik", sagt der Gewerkschafter. "Die meisten haben noch einen Funken Hoffnung." In der kommenden Woche wollen die Arbeiter in Priština protestieren. Ihre Drohung: "Entweder sorgt die Regierung dafür, dass wir elf ausstehende Monatsgehälter bekommen und die Fabrik wieder öffnet. Oder wir mieten Busse und Autos und wandern ebenfalls aus - mehrere Hundert Arbeiter samt ihren Familien." Viele Arbeiter haben sich schon Geburtsurkunden für sich und ihre Kinder aushändigen lassen.

Viele haben sich für die Fahrt nach Deutschland verschuldet

Offen ist nicht nur, ob die Armutsflucht weitergeht, sondern auch, was passiert, wenn die heutigen Auswanderer zurückgeschickt werden. Fast alle haben Ersparnisse aufgebraucht, Hab und Gut verkauft oder sich verschuldet.

In Mitrovica kratzte die Familie des 55 Jahre alten Sali Ahmeti gut 5000 Euro zusammen, um die Flucht des Sohnes Gezim, seiner Frau Antigona und der drei Kinder zu bezahlen, das meiste geliehen bei Verwandten, Freunden, Nachbarn. Über Serbien und Ungarn brachten sie Schlepper Anfang Februar bis nach Schweden. Dort hoffen die Ahmetis jetzt auf Jobs. "Nur Gott weiß, was passiert, wenn sie zurückkommen müssen", sagt Vater Sali.

Schon im Januar protestierten in Priština Zehntausende gegen die Regierenden - es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen. Auch die Gërxhalius im Dorf Studime gaben für die Flucht nach Deutschland mehrere Tausend Euro aus. Der 36-jährige Abit Gërxhaliu glaubt noch immer, dass seine Brüder und ihre Familien "Wirtschafts-Asyl" bekommen.

Als er hört, dass es dies in Deutschland gar nicht gibt, schweigt er. "Die Flucht nach Deutschland war unsere letzte Hoffnung. Wenn die Deutschen alle zurückschicken, explodiert Kosovo."

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SZ vom 21.02.2015/cmy
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