Es ist wieder einer dieser Raketen-Tage in Seoul. Der Generalstab des südkoreanischen Militärs hat gemeldet, dass Nordkorea allem Anschein nach eine Interkontinentalrakete gen Osten in den Pazifik gefeuert habe, eine Waffe also, mit der Nordkorea auch seinen Erzfeind USA treffen könnte. Aber für den Gastwirt Eugene Nah ist das kein besonders bemerkenswertes Ereignis. Er steht in seinem Restaurant im Bezirk Yongsan. Es ist kurz vor Mittag. Bald kommen die Gäste. Das interessiert ihn mehr als die Rakete.
"Vor zehn Jahren hatten die Leute noch Angst vor den Raketen", sagt er. Jetzt nicht mehr. Man kennt das Feuer aus Pjöngjang ja mittlerweile. "Die Leute wissen, dass Nordkorea durch die Raketen zu den USA spricht", sagt Nah, "sie wissen, dass Nordkorea nicht auf Südkorea schießen wird. Denn sonst wäre das Kim-Jong-un-Regime am Ende." Außerdem ist der Alltag für die meisten anstrengend genug - da kann man sich nicht von Raketen verrückt machen lassen, die man ohnehin immer nur in den Medien sieht.
Einen solchen Waffenverschleiß hat sich Kim Jong-un noch nie geleistet
Mehr als 50 Testraketen hat Nordkorea in den vergangenen zwei Monaten in die Meere rund um die koreanische Halbinsel geschickt. Einen solchen Waffenverschleiß hat sich Kim Jong-un noch nie geleistet. Und auch wenn die Normalbürgerinnen und -bürger in Südkorea keine große Sache daraus machen - Militär, Politik und Fachkreise können die Lage nicht so einfach auf sich beruhen lassen. Zumal das Verteidigungsministerium in Tokio meldete, die Rakete vom Freitag sei nur rund 200 Kilometer westlich von Japans Nordinsel Hokkaido in den Pazifik gestürzt, also in Japans Ausschließliche Wirtschaftszone.
Am Rande des asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgipfels in Bangkok gab es deshalb eine Dringlichkeitssitzung mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris, Südkoreas stellvertretendem Regierungschef Han Duck-soo, Japans Premierminister Fumio Kishida, dessen Amtskollegen Anthony Albanese (Australien) und Justin Trudeau (Kanada) sowie Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern. Gemeinsam forderten sie Nordkorea auf, die Provokationen zu unterlassen. Später stiegen dann Kampfjets der südkoreanischen und amerikanischen Luftwaffe auf. Thema der Übung laut südkoreanischem Generalstab: der Abschuss nordkoreanischer Raketenanlagen. Später erklärte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, man habe den jüngsten Raketentest nicht als "Bedrohung" für das eigene Land eingestuft, sei aber "zutiefst besorgt" über Nordkoreas ballistisches Raketenprogramm.
"Südkorea muss mit der Entwicklung eigener Atomwaffen beginnen"
Die Frage ist, was auf lange Sicht gegen Nordkoreas Raketentests hilft. Die Forderung nach Atomwaffen für Südkorea scheint dabei im In- und Ausland lauter zu werden. Umfragen des Chicago Council on Global Affairs und des Asan-Instituts für politische Studien in Seoul haben in diesem Jahr ergeben, dass 71 beziehungsweise 70 Prozent der Menschen in Südkorea für Atomwaffen in ihrem Land seien. Seit Anfang des Monats gibt es in Seoul das sogenannte "ROK Forum for Nuclear Strategy", eine Interessengruppe für die nukleare Bewaffnung Südkoreas. Mehr als ein Dutzend Experten haben sich schon angeschlossen. Initiator Cheong Seong-chang, ein leitender Analyst am Sejong-Institut, sagt in der Korea Times: "Südkorea muss mit der Entwicklung eigener Atomwaffen beginnen. Das ist der einzige Weg, der zur Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel führen kann."
Cheongs Strategie hat vier Stufen. Erste Stufe: Drohen, aus dem Atomwaffensperrvertrag auszusteigen, falls Nordkorea einen Atomwaffentest oder Ähnliches vollzieht. Zweite Stufe: Aus dem Atomwaffensperrvertrag tatsächlich aussteigen, falls Nordkorea stur bleibt. Dritte Stufe: Atomwaffen bauen. Vierte Stufe: Mit Nordkorea über eine beidseitige Abrüstung des Atomwaffenarsenals verhandeln.
Die Idee wirkt riskant. Die Atommacht Russland führt Krieg in der Ukraine, die globale Sicherheitslage ist deshalb so angespannt wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Atomwaffen für den kleinen US-Partner Südkorea wären da kein gutes Zeichen. Und ob sie Kim Jong-un beeindrucken würden, ist fraglich. Bisher hat er sich jedenfalls noch nicht abschrecken lassen von der Stärke seiner Gegner. "Die USA und Südkorea sind dem nordkoreanischen Militär konventionell überlegen", schreibt Zachary Keck, Verteidigungsexperte und früherer Mitarbeiter im Außenpolitik-Ausschuss des US-Parlaments, im Magazin Foreign Policy, "allein Seoul gibt etwa zehnmal so viel für sein Militär aus wie Pjöngjang, und der technologische Abstand ist noch größer."
Für Keck gibt es auch keinen Zweifel daran, dass die USA einen atomaren Angriff Nordkoreas auf den Süden mit eigenen Atomwaffen beantworten würden. "Viele sind besorgt, dass sich die USA von der koreanischen Halbinsel zurückziehen könnten, wenn Donald Trump oder jemand mit ähnlichen Ansichten erneut Präsident wird", schreibt Keck. "Verständlich. Aber das ignoriert die fast einhellige, parteiübergreifende Unterstützung für die US-Truppenpräsenz in Südkorea."
Die Diskussion zeigt, wie bedrohlich die Lage auf der koreanischen Halbinsel gerade ist. Verzweifelte Rufe nach Aufrüstung werden lauter. Dabei haben Leute wie der Gastwirt Eugene Nah gar nicht das Gefühl, als müssten sie der amerikanisch-südkoreanischen Allianz misstrauen.