Süddeutsche Zeitung

Korea:Der Überläufer

Thae Yong-ho arbeitete jahrelang als Diplomat Nordkoreas in der Londoner Botschaft. Nun will er Abgeordneter im Süden werden.

Von Thomas Hahn, Tokio/Seoul

Nordkorea wird für Thae Yong-ho das Thema seines Lebens bleiben. Wie könnte es anders sein? Thae, 57, hat das kommunistische Regime lange als Vize-Botschafter in London vertreten. Sein Stammbaum machte ihn unverdächtig, empfänglich zu sein für die Verlockungen der freien Welt. Trotzdem lief er 2016 mit Frau und zwei Söhnen nach Südkorea über, schrieb ein enthüllendes Buch, wurde ein gefragter Zeitzeuge aus dem rätselhaften Reich des Diktators Kim Jong-un.

Und auch der Umstand, dass er sich an diesem Mittwoch bei den Parlamentswahlen als erster Überläufer um ein Direktmandat für Südkoreas Nationalversammlung bewirbt, hat mit seiner alten Heimat zu tun. Im Herbst schickte Südkoreas Marine zwei Fischer aus Nordkorea zurück, weil sie unter Mordverdacht standen. Ohne Prozess. "Das war so falsch, selbst wenn sie Kriminelle waren", sagt Thae. Nun tritt er für die konservative Oppositionspartei VFP im Seouler Wahlkreis Gangnam an.

Die Flüchtlinge aus dem Norden bieten erstmals eine eigene Partei auf

Thaes Geschichte ist derzeit sicher nicht größer als das eigentliche Thema dieser Wahl. Zur Abstimmung kommt das Management der Coronavirus-Krise durch die Regierung des liberalen Präsidenten Moon Jae-in. Und es sieht so aus, als würde dieser Umstand Moons Partei DKP begünstigen. Die Zahl der Neuinfektionen ist gesunken. Die Umfragewerte sind positiv für die DKP. Die Konservativen wirken etwas einfallslos, wenn sie vor der "Diktatur" der Moon-Administration warnen, die den wirtschaftlichen Abgrund ansteuere.

Trotzdem steht Thaes Kandidatur für eine neuen Trend in der südkoreanischen Gesellschaft. Die Stimme der Überläufer in Südkorea wird lauter im Kampf gegen soziale Ungleichheiten zwischen den Landsleuten aus Nord und Süd. 2012 kam in Cho Myung-chul von der konservativen NFP der erste Überläufer über die Zweitstimmen ins Parlament. Diesmal bieten die Flüchtlinge aus dem Norden erstmals eine eigene Partei auf, die Süd-Nord-Einheitspartei. Und in Thae haben sie auf einmal eine Identifikationsfigur, die nicht nur Achtung in Südkorea genießt. Er ist auch ein international bewährter Redner.

Thae Yong-ho war ein Nordkoreaner ohne Sorgen. Er lebte in Dänemark, Schweden, England und genoss die Privilegien der Elite. Die Flucht ergriff er nach eigenen Angaben, weil er seinen erwachsenen Söhnen nicht zumuten wollte, sich an ein Unrechtssystem anpassen zu müssen, deren Nachteile sie nach ihrer Jugend in Europa gut kannten. "Als Vater ist es mein letzter Wunsch, die Kette der Sklaverei zu durchbrechen", sagt er. Aber es wird auch eine Befreiung für ihn selbst gewesen sein. Als Diplomat musste er jahrelang einen Staat verteidigen, über den er jetzt sagt: "Es gibt dort absolut keine Freiheit. Es gibt nicht einmal die Freiheit, arbeitslos zu sein."

Als "menschlichen Abschaum" hat Nordkoreas staatliche Nachrichtenagentur ihn nach dem Seitenwechsel bezeichnet. Übelste Nachrede wurde aus Pjöngjang über ihn verbreitet. Eine Rückkehr in den Norden wäre für ihn vermutlich tödlich. Deshalb war Thae Yong-ho wohl auch so aufgewühlt, als er hörte, dass Südkorea zwei Landsleute aus dem Norden zurückgeschickte habe. Zu seinem Wahlprogramm gehört ein Gesetz, das Südkorea verpflichtet, alle nordkoreanischen Geflüchteten aufzunehmen - unabhängig davon, was sie verbrochen haben.

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SZ vom 15.04.2020
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