Kopten in Ägypten:Fremd im eigenen Land

Die einen feiern, die anderen haben Angst. In Ägypten regieren jetzt die Muslimbrüder mit Präsident Mursi an der Spitze. Die Kopten fühlen sich von ihnen bedroht, viele verlassen das Land. Erstarrt und orientierungslos versucht die christliche Kirche, ihre Rechte zu sichern. Die Hoffnung ruht auf Männern wie Michael Girgis.

Jan Hendrik Hinzel, Kairo

Hoffnung, Freiheit, Revolution - das war der Tahrir-Platz für Michael Girgis früher. Jetzt ist es für ihn ein Ort, "an dem nur noch die Islamisten sind." Er selbst steht ein paar Kilometer weiter im Kairoer Stadtteil Medinat Nasr auf der Straße, zusammen mit Tausenden anderen Ägyptern. Es sind die Anhänger von Ahmed Schafik, dem letzten Premierminister unter Mubarak, dem Wunschkandidaten des Militärs, dem Wahlverlierer. In den Köpfen der Demonstranten von Medinat Nasr ist Schafik immer noch präsent. Für sie steht er für einen zivilen, säkularen Rechtsstaat. Und für den Kampf gegen die Muslimbrüder.

Michael Girgis ist koptischer Christ in Ägypten

Michael Girgis heißt in Wirklichkeit anders. Aber aus Angst möchte er seinen richtigen Namen nicht nennen - sein Bild dürfen wir aber zeigen. Girgis ist koptischer Christ. Er fühlt sich bedroht, weil in Ägypten die Muslimbrüder die Wahl gewonnen haben.

(Foto: Philipp Spalek)

"Die sollen bloß nicht denken, dass der Tahrir-Platz ganz Ägypten repräsentiert", sagt Girgis, ein koptischer Christ. Auch eine Woche nach der Verkündung des Wahlergebnisses will er den Muslimbruder Mohammed Mursi nicht als neuen Präsidenten anerkennen. Er habe Angst vor ihm, sagt er. Deswegen will er auch seinen richtigen Namen nicht verraten. Michael Girgis ist ein Pseudonym, das ihn schützen soll.

"Wie Pakistan, wie Afghanistan, wie Iran!"

Die Muslimbrüder beschreibt er als Chamäleons: Sie änderten ihre Farbe je nach Situation. Erst hätten sie gesagt, sie stellten keinen Präsidentschaftskandidaten auf. Aber jetzt haben sie die Wahl gewonnen. Mursis Ankündigung, er wolle einen christlichen oder weiblichen Vizepräsidenten ernennen, traut Girgis nicht. Er befürchtet stattdessen einen islamischen Gottesstaat, spricht in Anlehnung an den arabischen Namen seines Landes "Misr" schon spöttisch von "Misristan". Ägypten, fürchtet er, werde "wie Pakistan, wie Afghanistan, wie Iran!".

Girgis jüngerer Bruder hat das Land bereits verlassen. Er arbeitete bei einem christlichen Fernsehkanal als Gebärdendolmetscher für einen Priester. Radikale Islamisten schickten Schmähbriefe und Morddrohungen. Er solle die christliche Propaganda beenden, hieß es darin. Seit knapp einem Jahr lebt er nun in den USA und möchte, dass sein älterer Bruder ihm folgt.

Koptische Christen stellen zwischen zehn und zwölf Prozent der 83 Millionen Ägypter. Mindestens 93.000 haben der Organisation Egyptian Union for Human Rights zufolge seit den Protesten im vergangenen Jahr Ägypten verlassen. Naguib Gobrail, Präsident der Organisation und selbst Kopte, vermutet, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. "Es ist schon eine fast irrationale Angst vor Islamisierung, die viele Kopten aus dem Land treibt", sagt er.

Mubarak wusste die Kopten zu nutzen

Tatsächlich überlegen einer Studie der Internationalen Organisation für Migration zufolge 15 Prozent aller Ägypter, das Land zu verlassen (Stand: 2011). Religiöse Gründe sind ein Grund dafür, aber auch die Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt lässt viele Menschen über eine Ausreise nachdenken.

Die koptische Kirche setzte stets auf die Unterstützung Hosni Mubaraks, obwohl Mubarak und sein Militär die Kopten für die antiislamistische Propaganda des Regimes zu nutzen wusste. Ahmed Schafiks Wahlkampfleiter, der unter Mubarak im Innenministerium arbeitete, plante die Attacke auf eine Kirche in Alexandria im Januar 2011. Die Regierung gab den Islamisten die Schuld und konnte so ihre harte Vorgehensweise gegen islamistische Gruppierungen rechtfertigen.

Seit das alte Regime weg ist, sei es nicht viel besser geworden, sagt Menschenrechtler Gobrail und berichtet von Plünderungen christlicher Läden, Zerstörungen von Alkohol-Shops, Behinderungen beim Bau oder bei der Renovierung von Kirchen, Aufforderungen einzelner islamistischer Männer an koptische Frauen, die Arme zu bedecken.

Autos und Panzer fuhren in die Menge

Der koptische Christ Michael Girgis ist ein hagerer, kleiner Mann mit vielen Falten. Auf den ersten Blick wirkt er hager und verbraucht, aber er steckt voller Energie. Die brachte er im Oktober vergangenen Jahres auf die Straße. Endlich gleiche Rechte. Endlich geschützt werden. Der Demonstrationszug startete in Kairos Stadtteil Shubra, in dem viele Christen wohnen. Sie machten sich auf den Weg nach Maspero, das Viertel, wo das ägyptische Staatsfernsehen seinen Sitz hat. Michael Girgis lief ganz hinten, er bildete die Nachhut.

Einige Männer gingen dem Zug voraus. "Shaheed taht al talab - Märtyrer auf Befehl", stand auf den Binden, die sie sich um die Brust gehangen hatten. Irgendwann begannen Anwohner, Steine und Molotowcocktails auf die Demonstranten zu werfen. Sie folgten einem Aufruf des Staatsfernsehens, das Militär zu unterstützen. Demonstranten würden Soldaten angreifen. Der Streit eskalierte, das Militär mischte sich ein, fuhr mit Autos und Panzern in die Menge. Mehr als 200 Menschen wurden verletzt, mindestens 28 starben vor Ort, weitere im Krankenhaus.

Noch heute hat Girgis die Bilder von entstellten Körpern vor Augen. Von Köpfen, Armen und Beinen, zerquetscht, zerrissen und zermalmt von den Ketten der Panzer. "Während der Demonstration hat ständig mein Handy geklingelt", erzählt er. "Es war meine Frau, die alles live im Fernsehen verfolgte. Ich wusste nicht, ob ich rangehen sollte, oder ob ich die Toten von der Straße ziehen sollte."

Maspero - ein kollektives Trauma

Wenn die Kopten heute von Maspero reden, meinen sie nicht den Stadtteil, sondern jenen Tag im Oktober - ein kollektives Trauma. An diesem Tag, sagt Girgis, habe er begriffen, dass auch das Militär die Christen nicht beschützen werde. Mit Präsident Mursi ist nun das von vielen Kopten seit Jahren beschworene Horrorszenario eingetreten: Ein Muslimbruder ist an der Macht.

Wer vertritt nun die Interessen der Kopten? Der koptische Papst Schenuda III. wirkte nicht nur als spiritueller Anführer, sondern stets auch als politischer Ansprechpartner für die Regierung. Im März ist er gestorben. Einen neuen Papst wird es erst in einigen Monaten geben. Bis dahin führt ein Gremium von Priestern die koptische Kirche durch raue Zeiten.

Am Mittwoch drohte die koptische Kirche damit, ihre Repräsentanten der verfassungsgebenden Versammlung abzuziehen. Sie fürchten, dass die neue ägyptische Verfassung die Rechte von Minderheiten nicht respektiert.

"Grundidee" oder "Gebot" der Scharia?

Der ägyptischen Tageszeitung Al-Masry Al-Youm zufolge haben führende Bischofe der Kirche einen ganzen Tag über den Sinn einer solchen Aktion diskutiert. Konkret geht es um Artikel zwei der Verfassung aus dem Jahr 1971. Er besagt bisher, dass die Grundideen der Scharia, des islamischen Rechts, bei der Gesetzgebung als erste Quelle berücksichtigt werden müsse. Islamisten innerhalb der Versammlung möchten aus den Grundideen nun konkret das "Gebot der Scharia" machen, was eine wörtliche Auslegung ermöglichen würde.

Die Koptische Kirche möchte den ursprünglichen Wortlaut beibehalten. Darüber hinaus fordern Priester einen eigenen Paragrafen, der Nichtmuslimen das Recht einräumt, eigenen religiösen Gesetzen zu folgen.

Genau das würde jedoch unter Umständen die Abkapselung der Kopten vorantreiben. Schon heute leben viele koptische Christen in einer Parallelgesellschaft: Sie kaufen in koptischen Geschäften, lassen sich in koptischen Krankenhäusern behandeln, Studenten hängen in der Universität oder in der Schule in koptischen Cliquen herum. Das betrifft bei weitem nicht alle Kopten und viele verstehen sich blendend mit Muslimen, aber die Gemeinden üben einen großen Einfluss auf ihre Mitglieder aus. Schon während der Präsidentschaftswahl riefen einige Priester offen dazu auf, für Ahmed Schafik zu stimmen.

"Wir wollen uns mit Muslimen zusammentun"

Aber es regt sich Widerspruch gegen die politische Bevormundung durch die Kirche. Das politische Vakuum nach dem Tod des Papstes gibt Gruppen wie Shabab Maspero, die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben. Michael Girgis hat die Maspero-Jugend im März vergangenen Jahres mitbegründet, nachdem Islamisten eine Kirche in der äyptischen Stadt Atfeeh anzündeten. Auch damals protestierten Kopten in Maspero. "Wir möchten uns unabhängig von der Kirche politisch engagieren. Der neue Papst soll in erster Linie ein spiritueller Führer sein", sagt Girgis. Und: "Wir wollen uns auch mit Muslimen zusammentun." Zwei seien schon Mitglied der Gruppe geworden.

Die Gruppe trifft sich in der Kairoer Innenstadt in einer leerstehenden Wohnung mit vergilbten Tapeten. Die Mitglieder sitzen auf wackeligen Stühlen, die Polster mit löchriger Plastikfolie verhüllt. Es sind keinesfalls nur junge Kopten, die hier zusammen kommen. Verschiedene Altersgruppen sind vertreten, sogar ein Priester ist gekommen.

Viele Fragen - noch wenige Antworten

Die Maspero-Jugend widmet sich Fragen, die die Kirche in den vergangenen Jahren häufig umgangen oder ignoriert hat. Wie verbessert man Beziehungen zur muslimischen Mehrheitsgesellschaft? Wie übt man Druck auf Präsident Mursi aus? Wie können Kopten dazu bewegt werden, im Land zu bleiben? Wie geht man gegen die Selbstisolation mancher Kopten vor?

Fragen und Wünsche hat die Maspero-Jugend viele - Antworten bisher wenige. Es hapert an der Organisationsstruktur und an den Abläufen. Aber die Idee komme gut an, schwärmt Girgis. Er berichtet von Zweigstellen in Alexandria, Suez und Asiut und hofft, dass sich die Jugend für Ägyptens Zukunft interessiert.

Abends, wenn er mit seinem jüngeren Bruder in den USA telefoniert, überkommen ihn manchmal Zweifel. Sollte er doch auswandern? Wird es zu gefährlich? "Ich kann ein Visum besorgen", sagt der Jüngere am Telefon. "Vielleicht in ein paar Monaten", antwortet der Ältere. Noch will er sein Land nicht aufgeben.

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