Kopftuchdebatte in der Türkei:"Niemand muss Angst haben"

Die Türken haben den Streit um das Kopftuch satt. Jetzt lädt Präsident Gül erstmals prominente Trägerinnen und Militärvertreter zum gemeinsamen Staatsempfang - eine historische Konfrontation.

Kai Strittmatter, Istanbul

Zwei von drei Türkinnen tragen Kopftuch, gleichzeitig hat das Land seit Jahrzehnten weit strengere Kopftuch-Verbote als jedes andere europäische Land. Allmählich jedoch fallen diese - und kaum jemand regt sich auf. An diesem Freitag, dem Tag der Republik, schlägt die Türkei eine weitere Schlacht im Kopftuch-Streit. Erstmals lädt Staatspräsident Abdullah Gül die Militärführung und prominente Kopftuchträgerinnen, unter ihnen seine Frau Hayrünnisa Gül, zum traditionellen Empfang.

Bettina Wulff, Gül Kopftuch

Präsidentengattin Hayrünnisa Gül (rechts, hier mit Bettina Wulff) trägt öffentlich Kopftuch.

(Foto: REUTERS)

In den vergangenen Jahren hatte Gül getrennte Empfänge veranstaltet, um eine Konfrontation mit der Armee zu vermeiden. Die Generäle haben seit der Wahl Güls zum Präsidenten 2007 mehrfach Veranstaltungen boykottiert, in denen seine Ehefrau zugegen war. Manche Zeitungen spekulieren nun, die Offiziere wollten Güls Empfang erneut boykottieren. Andere hingegen melden, der Generalstab werde dem Präsidenten wenigstens kurz seine Aufwartung machen.

Erstaunlicher jedoch als ein möglicher Boykott durch die Generäle ist die Gelassenheit, mit der weite Teile sogar der armeefreundlichen kemalistischen Opposition reagieren. Vergangene Woche erst hatte Hayrünnisa Gül für Aufsehen gesorgt, als sie zum ersten Mal in ihren drei Jahren als Präsidentengattin an der Seite des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff in Ankara die Ehrenformation der Streitkräfte abschritt. Schon da waren die Schlagzeilen auch in regierungskritischen Zeitungen kaum von feindseligen Kommentaren begleitet.

"Die türkische Öffentlichkeit hat den Kopftuch-Streit satt", schreibt der Kolumnist Mehmet Ali Birand aus dem säkularen Lager. Wenn die kemalistische Oppositionspartei CHP am Empfang des Staatspräsidenten teilnehme, beweise sie, dass sie "nicht engstirnig" sei.

Tatsächlich hat gerade die CHP beim Thema Kopftuch einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Nicht der religionsfreundliche Premier Tayyip Erdogan hatte das Thema wieder auf die Tagesordnung gebracht, sondern sein Widersacher Kemal Kilicdaroglu von der CHP. Seine Partei wolle das Problem endlich "lösen", sagte Kilicdaroglu im September. Noch sein Vorgänger Deniz Baykal hatte die CHP auf eine strikt kopftuchfeindliche Linie eingeschworen. Als das Verfassungsgericht 2008 ein Verbotsverfahren gegen die regierende AKP einleitete, zählte der Kampf der AKP für die Zulassung von kopftuchtragenden Studentinnen an den Universitäten zu den Hauptindizien für die angebliche Verfassungsfeindlichkeit der AKP. Die CHP applaudierte dem Verbotsverfahren.

Für den Empfang beim Präsidenten hat die CHP ihren Abgeordneten die Teilnahme freigestellt. Und auch ihr Widerstand gegen die Freigabe des Kopftuches an den Universitäten scheint zu schwinden, eine Folge der Erkenntnis, dass die meisten Bürger das Verbot längst nicht mehr verstehen. "Solange man kopftuchtragenden Frauen das Recht auf Bildung verwehrt, kann sich dieses Land keine Demokratie nennen", schrieb der Autor Markar Esayan, ein Istanbuler Armenier.

Faktisch ist das Verbot schon Geschichte

"Keiner braucht davor Angst zu haben", meint auch Selma Acuner von der Frauenrechtsorganisation KA-DER: "Der Körper der Frauen sollte kein Schlachtfeld der Politik mehr sein." Allerdings müsse die Regierung sicherstellen, dass auch in Zukunft unbedeckte Frauen im konservativen Osten des Landes nicht bedrängt würden. Und Autor Esayan rief die Regierung auf, die Diskriminierung der Kopftuchträgerinnen nicht isoliert anzugehen, sondern "gemeinsam mit den Problemen der Kurden, der Aleviten, der Armenier" und anderer Benachteiligter zu lösen.

Faktisch ist das Kopftuchverbot an vielen Hochschulen schon aufgehoben, seit der Hochschulrat vor drei Wochen die Universitäten anwies, bedeckte Studentinnen in die Hörsäle zu lassen. Gesetzlich allerdings möchte Premier Erdogan das Thema erst nach den Wahlen 2011 angehen, offenbar im Zusammenhang mit den Arbeiten an einer neuen Verfassung.

Bei der Diskussion um die Hochschulen wird es nicht bleiben. Schon meldete sich die AKP-Funktionärin Fatma Ünsal und forderte, auch das Parlament fürs Kopftuch zu öffnen: "Sonst dürfen 70 Prozent der türkischen Frauen nur wählen, aber nicht gewählt werden." Eine gewohnt scharfe Stimme gegen jede Lockerung der Verbote ist Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya. Er drohte wegen "versuchter Abschaffung der Revolutions- und Laizismusgesetze" mit neuen Verbotsprozessen, eine Mahnung, die diesmal alle Parteien trifft.

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