Konzert in Chemnitz:65 000 sind mehr

Die Ausschreitungen in Chemnitz sind eine gute Woche her, da laden Rocker und Rapper zu einem Konzert gegen den rechten Hass. Sogar aus Österreich kommen Besucher.

Von Antonie Rietzschel und Ulrike Nimz, Chemnitz

Es ist schwer, Zehntausende Menschen zum Schweigen zu bringen. Doch an diesem Abend gelingt es. Kurz nach 17 Uhr stehen sie dicht gedrängt auf dem Platz vor der Johanniskirche mitten in der Chemnitzer Innenstadt. Über den Platz weht nur das Geklingel der Straßenbahn auf ihrer Fahrt nach Gablenz. Nicht ganz 60 Sekunden währt die Schweigeminute für Daniel H., der am 26. August nach einer Messerattacke starb. Wiederholt ist die Stadt seitdem zum Aufmarschgebiet von Rechtsextremen, Hooligans und "besorgten Bürgern" geworden. An diesem Tag nun will Chemnitz sein anderes Gesicht zeigen, mit einem gigantischen Konzert unter dem Motto "Wir sind mehr".

Die Chemnitzer Stadthalle hat schon viele Künstler kommen und gehen sehen, Hansi Hinterseer, die Tage der erzgebirgischen Folklore, die Krone der Volksmusik. Am frühen Nachmittag sitzen hier Felix Brummer, Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub, Campino von den Toten Hosen, Jan "Monchi" Gorkow von Feine Sahne Fischfilet. In einer Pressekonferenz erläutern die Künstler das Wie, Wann und Wo. Vor allem aber: das Warum.

Sie alle seien geschockt gewesen von den fremdenfeindlichen Demos der vergangenen Tage, den Bildern, die aus der Stadt in die Welt gingen. Schon am Dienstagabend habe man entschieden, dass etwas passieren muss. "Und was wir am besten können, ist nun mal Musik machen", sagt Brummer. Zwölf Stunden und etliche Telefonate später hätten alle befreundeten Künstler zugesagt.

"Es geht darum, andere Bilder zu senden", sagt der Rapper Marteria, der eigentlich Marten Laciny heißt. Er weiß, was es heißt, wenn die Heimatstadt plötzlich die Titelseiten dieser Welt ziert. Marteria ist Sohn einer Lehrerin und eines Seemannes, groß geworden im Rostocker Stadtteil Groß Klein, ein Plattenbaugebiet, nur ein paar Hundert Meter Luftlinie vom Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen entfernt, vor dem ein enthemmter Mob vor ziemlich genau 26 Jahren Molotowcocktails durch die Fenster der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber warf, Menschen aufs Dach fliehen mussten, die Polizei hilflos daneben oder gar nirgendwo stand. "Damals saß ich mit meiner Mutter und meiner Schwester heulend im Wohnzimmer", sagt Marteria.

Die Bilder, die an diesem Tag aus Chemnitz in die Welt gehen, sind andere als aus Rostock, Hoyerswerda, Heidenau, Clausnitz. Mit 20 000 Besuchern haben die Veranstalter gerechnet. Es kommen 65 000. Die Chemnitzer Innenstadt ist voll. Menschen sitzen in Baumkronen, auf den Dächern von Parkhäusern, sind auf Bushaltestellen geklettert. Sie haben Sektflaschen dabei, Regenbogenfahnen, Plakate: "Lieber solidarisch, als solide arisch" oder: "Mutti mir geht's gut".

Es geht um die Jugend in der Platte und die Heimat, die jeder braucht

Auf der Bühne macht der Rapper Trettmann den Anfang, 1973 geboren, aufgewachsen im Chemnitzer Wohngebiet Fritz Heckert. Früher hat er in breitem Sächsisch zu Reggaebeats gesungen, Karl-Marx-Stadt meets Karibik. Jetzt wogt das Publikum zu "Grauer Beton". Darin reimt Trettmann über die Härten seiner Plattenbaujugend: "Fast hinter jeder Tür lauert ein Abgrund. Nur damit du weißt, wo ich herkomm." Feine Sahne Fischfilet singen über das Zuhause, und dass eigentlich jeder eines braucht. Im Fünfgeschosser neben der Bühne steht eine alte Dame in blauer Strickjacke auf dem Balkon. Sie stützt sich auf die Brüstung, die mit Geranien geschmückt ist, verzieht keine Miene. Unten rappen K.I.Z aus Berlin: "Hurra, diese Welt geht unter!"

Und dann kommt Kraftklub, groß geworden in den Chemnitzer Proberäumen. Sie singen "Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler!" Tausende singen mit, längst nicht alle sind Ostler. Ein Schwabe und ein Dresdner geben sich High-Five. An der Bahnhofstraße rollt ein VW Golf mit Kennzeichen aus Österreich auf die Kreuzung. Die Stoßstange wird nur noch von Gaffa Tape am Auto gehalten. Drin sitzen vier junge Menschen, versuchen niemanden zu überfahren. "Bisschen spät, aber wir sind da!", rufen sie durchs runtergekurbelte Autofenster.

An diesem Abend stehen in Chemnitz Bands auf der Bühne, die im Osten des Landes aufgewachsen sind. Die Mitglieder von Feine Sahne Fischfilet stammen aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Demmin, Wismar, Loitz, Greifswald. Wer dort lebt und freiwillig oder unfreiwillig anders ist, lernt früh, wie man Neonazis schon vom Weitem erkennt, und dass Schweigen gar nichts nützt.

Marteria hat am vergangene Wochenende ein Konzert im Rostocker Ostseestadion gespielt, mit Shanty-Chor und einem klaren Statement gegen "Faschos, Homophobe und Menschen, die Gewalt gegen Andersdenkende ausüben". Kraftklub haben ihrer Heimatstadt das "Kosmonaut"-Festival geschenkt, in großen Teilen ein "Do it yourself"-Event, das Chemnitz einmal im Jahr zum Gravitationszentrum für unvoreingenommene Jugend und unverbrauchte Künstler macht.

"Wir sind mehr" ist mitnichten das Band Aid der Millennials. Es ist eine Phalanx von Künstlern, die erkannt haben, dass es eben nicht reicht, alle paar Jahre in die Heimat zurückzukehren und die Stadthalle abzureißen. Dass es nicht nur Solidarität braucht, sondern Kontinuität. "Wir sind Chemnitzer - und werden noch hier sein, wenn die Kameras weg sind", ruft Felix Brummer ins Mikrofon. Den Jubel hört man noch am Nischl, dem Karl-Marx-Kopf.

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