Konzept für das Mittelmeer:Da geht jetzt was

Rom, Paris und Berlin wollen die Blockade in der Asylpolitik aufbrechen. Ein Modell für die Verteilung von Bootsflüchtlingen nimmt Formen an. Noch aber sind zentrale Fragen offen.

Von Matthias Kolb, Oliver Meiler und Nadia Pantel

Konzept für das Mittelmeer: Ankunft auf Lampedusa: In jüngster Zeit landen wieder mehr Flüchtlinge in Italien an, hier Menschen, die vergangene Woche vom Rettungsschiff Ocean Viking auf ein Schiff der Küstenwache umgestiegen sind.

Ankunft auf Lampedusa: In jüngster Zeit landen wieder mehr Flüchtlinge in Italien an, hier Menschen, die vergangene Woche vom Rettungsschiff Ocean Viking auf ein Schiff der Küstenwache umgestiegen sind.

(Foto: ALESSANDRO SERRANO/AFP)

Plötzlich haben sie Platznot im Hotspot von Lampedusa. Es gibt dort Raum für 95 Neuankömmlinge, für Flüchtlinge also, die von Libyen oder Tunesien aus das zentrale Mittelmeer überquerten und jetzt auf der italienischen Insel identifiziert werden sollen. Nun aber sind in dem Auffanglager 240 Menschen untergebracht, so gut es eben geht. Auch in Kalabrien, auf Sardinien und Sizilien landen seit Wochen wieder mehr Migranten an, in den vergangenen drei Tagen allein waren es 300. Alle setzten an Bord kleiner Boote über - "autonom", wie die Italiener sagen. Sie wurden also nicht auf halber Flucht von privaten Hilfsorganisationen oder von der Küstenwache aus Seenot gerettet.

September, das ist bereits klar, ist der erste Monat in diesem Jahr, in dem die Zahl der Ankömmlinge höher ist als im Vorjahr. Nur eine kleine Trendwende, die vielleicht vor allem auf das Wetter zurückgeht. Politisch ist sie aber höchst brisant - für Italien, aber letztlich auch für Deutschland und andere EU-Länder. Italien hat erst seit einigen Tagen eine neue, eher linke Regierung, sie ist zusammengesetzt aus Cinque Stelle und Sozialdemokraten. Und der ist viel daran gelegen, dass der ehemals starke Mann in Rom, der gestürzte Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini von der rechten Lega, möglichst nicht vermisst wird. Wenn jetzt aber über Nacht wieder mehr Migranten nach Italien kommen, liefert das Salvini viel Stoff für seine Kampagne. "Schande", twittert er, "die Häfen sind wieder offen."

In Umfragen ist Salvinis rechte Lega noch immer die stärkste Partei in Italien

Das stimmt zwar so nicht. Auch die neue Regierung lässt Rettungsschiffe nur dann einlaufen, wenn sich genügend europäische Länder finden, die bereit sind, einen Teil der Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Zudem kamen auch in der Amtszeit Salvinis ständig Migranten mit sogenannten Geisterschiffen an, mit Booten also, die unter dem Radar durchgingen, auch unter dem medialen. Schlagzeilen machten die Hafenschließungen und die Kraftproben des Rechtspolitikers mit den Seenotrettern. Wenn nun ausgerechnet kurz nach Salvinis Sturz mehr Flüchtlinge anlegen, könnten viele denken, das liege am Regierungswechsel. Aus Sicht der neuen Koalition wäre das fatal, Salvinis Gunst im Volk, die zuletzt geschwunden ist, würde bald wieder zulegen. Seine Lega ist bei Umfragen noch immer stärkste Partei im Land.

Erdogan fordert Zone für Flüchtlinge

Gut 450 Kilometer lang und 30 Kilometer tief soll die "Sicherheitszone" werden, die sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wünscht, entlang der türkischen Grenze auf syrischem Gebiet. Dort will die Türkei dann Häuser, Straßen, Schulen bauen für "zwei bis drei Millionen Flüchtlinge". Auch aus Europa könnten Syrer in diese Zone umgesiedelt werden. Die EU sollte die Idee unterstützen, sagt Erdoğan. "Wir erwarten Taten." Der Vorschlag soll offenbar Kritik an einer türkischen Militäraktion entkräften. Denn das Gebiet, das die Türkei mit den USA - oder notfalls auch alleine - östlich des Euphrat "sichern" will, wird derzeit noch von kurdischen Milizen beherrscht. Nun ist kaum zu erwarten, dass die EU bei einer Besatzung Syriens mitmacht. Alternativ dürfte Ankara dann mehr Geld fordern für die Flüchtlingsbetreuung. Dass die zugesagten sechs Milliarden Euro nicht reichten, hat Erdoğan zuletzt schon mehrfach gesagt. csc

Deshalb wirbt Giuseppe Conte, der alte und neue Premier, seit einer Woche mit viel Leidenschaft für mehr europäische Solidarität bei der Steuerung der Migrationsflüsse und hofft dabei vor allem auf die wichtigsten Partnerstaaten, auf Deutschland und Frankreich. Am kommenden Montag, beim Migrationsgipfel von fünf EU-Innenministern in Malta, will man über Lösungen sprechen. Neben Italien, Frankreich und Deutschland sind Malta und, für die EU-Ratspräsidentschaft, Finnland vertreten. Berlin und Paris haben Conte mehr oder weniger konkret Hilfe zugesagt - als Teil einer Koalition der Willigen, um Italien zu entlasten. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) nannte vergangene Woche sogar eine genaue Quote: 25 Prozent. Deutschland sei bereit, jeden vierten Migranten, der im zentralen Mittelmeer aus Seenot gerettet werde, bei sich aufzunehmen. Seehofer wurde deshalb auch in der Union kritisiert. Man dürfe keine Anreize schaffen, "dass die Schlepperfunktion sozusagen zur Dauereinrichtung wird", sagte etwa Mike Mohring, der CDU-Spitzenkandidat bei den Thüringer Landtagswahlen im Oktober. Das wiederum veranlasste Seehofer am Donnerstag dazu, sich zu verteidigen. Seehofer will auf EU-Ebene endlich vorankommen. Der Preis dafür, die Aufnahme von Bootsflüchtlingen, erscheint ihm gering. Im Juli 2018 habe man begonnen, ihre Aufnahme zuzusagen, in 15 Monaten seien nur 225 aus Seenot Gerettete gekommen. Das sei "Lichtjahre entfernt von einer Veränderung der Migrationspolitik der Bundesregierung".

Ziel der drei Länder und des Gipfels in Malta ist es, den Ad-hoc-Verteilungsmodus, der bisher bei jeder Anlandung mühsamst und mit zig Telefonaten umgesetzt wurde, einigermaßen zu automatisieren. Noch sind aber viele zentrale Fragen offen. Sollen nur Kriegsflüchtlinge verteilt werden, wie die Franzosen es wollen, oder auch Wirtschaftsflüchtlinge? Seehofer machte da keinen Unterschied. Wo wird entschieden, welcher Ankömmling ein Recht hat, umgesiedelt zu werden: noch an Bord oder erst an Land? Und wer entscheidet das? Ist es möglich, dass die Anlegehäfen am Mittelmeer künftig wechseln, damit nicht immer die nächstgelegenen sicheren Häfen angesteuert werden?

Innenpolitisch gibt sich Frankreichs Präsident Macron bei der Migration eher hart

Die Franzosen sind dagegen, dass auch mal ein Schiff etwa nach Marseille gelotst wird. Außerdem ist Frankreich nur bereit, Menschen aufzunehmen, die aus Seenot gerettet worden sind. Das jedenfalls ist der Stand nach Emmanuel Macrons Besuch diese Woche in Rom. Es war eine Art Aussöhnungsvisite, nachdem sich die alte Regierung - und Salvini im Speziellen - davor 14 Monate lang mit dem Élysée gestritten hatte.

Die Italiener hofften nun, der französische Präsident würde wie Seehofer eine Quote für die Übernahme von Migranten nennen. Doch Macron beließ es zunächst bei vagen Zusagen. Was zählte, war das gute Klima. Durch die neue Regierung in Rom gebe es jetzt "ein Zeitfenster der Möglichkeiten", in dem auch eine Grundsatzreform des EU-Asyl-Systems verhandelt werden könne, sagte Macron. Er plädiert schon lange für neue europäische Regeln.

Da mag es verwundern, dass er gleichzeitig innenpolitisch einen Rechtsruck in der Asylpolitik einleitet. In einer Rede vor Mitgliedern seiner Partei La République en Marche (LREM) sagte er am Montag, dass er "das einfache Volk" stärker schützen wolle, das "mit der Einwanderung leben müsse". Man sei "oftmals zu lasch unter dem Vorwand, humanistisch zu sein". Macron sagte, dass vor allem die weniger Einkommensstarken seine rechtsradikale Konkurrentin Marine Le Pen wählten.

Mit seiner neuen Strategie, sich "dem Thema der Migration zu stellen", will Macron Le Pen in genau dem Bereich angreifen, in dem sie die radikalsten Positionen vertritt, bei der Einwanderung. Schon jetzt regt sich Protest im linken Flügel von LREM, 15 Abgeordnete haben sich öffentlich für eine "menschenfreundliche Einwanderungspolitik" starkgemacht. Zum neuen Kurs passt, dass Macron nur Menschen an einem etwaigen Verteilungsmechanismus teilhaben lassen möchte, die ein Recht auf Asyl haben. Für die "schnellere Rückführung" von Wirtschaftsmigranten fordert er "europäische Mittel".

In Brüssel wird in diesen Tagen jedes Statement aus Paris, Berlin und Rom aufmerksam registriert, denn dort fallen die Entscheidungen. Die EU schaut der Debatte von außen zu. In Malta wird sie durch Kommissar Dimitris Avramopoulos vertreten sein. Der Grieche ist seit 2014 für Migration zuständig und bemüht sich seither um Kompromisse zwischen den Partnerstaaten - meist vergeblich. Man stehe auch jetzt bereit, die Bemühungen mit den EU-Agenturen "operationell und finanziell" zu unterstützen, heißt es aus der Kommission. Mehr kann die Behörde bei der Koordinierung von Such- und Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer nicht tun. Da liegt die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten.

Doch der Abgang Salvinis hat in Brüssel die Hoffnung geweckt, dass der "Neustart" in der Migrationspolitik, wie ihn die designierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ankündigte, tatsächlich gelingen kann. Ein Gesetzespaket hängt seit Jahren fest. Viele Länder pochen auf strukturelle Änderungen, und nicht alle schicken Emissäre nach Malta. Da und dort wird die Sorge laut, dass eine kurzfristige Lösung, wie sie nun die "Willigen" ins Auge fassen, einen größeren Wurf zum Asyl erschweren könnte. Ein möglicher Kompromiss in Malta, so finden etliche Regierungen, wäre nur ein Anfang.

Ist das zu optimistisch? Polen und Ungarn zum Beispiel blockieren dauerhaft. Und in Spanien muss schon bald neu gewählt werden, was einen großen Reformelan ebenfalls hemmt. Das "Zeitfenster" mag gerade günstig sein. Lange bleibt es aber wohl nicht offen.

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