Süddeutsche Zeitung

Konstituierende Sitzung des Bundestags:Tag eins

631 Abgeordnete werden in der neuen Legislaturperiode über die Geschicke Deutschlands entscheiden. In ihrer ersten Sitzung sind sich die Alten und die Neuen im Bundestag noch ein wenig fremd, der Präsident wird emotional - und es gibt eine kurze hitzige Debatte.

Von Stefan Braun, Berlin

Was ist das für ein Plaudern und Reden und Lachen. Ein richtig lautes Hallo nach einer richtig langen Sommerpause. Als am Dienstagvormittag die Bundestagsabgeordneten - mal in Gruppen, mal in Grüppchen oder auch alleine - in den Plenarsaal des Bundestags einlaufen, muss man unweigerlich an einen Schulhof nach den großen Ferien denken. Die meisten nämlich sehen entspannt aus, und die allermeisten haben sich ganz nach eigenem Geschmack fein rausgeputzt. Die einen, weil sie nach dem Wahlkampf und einer langen Sommerpause wieder auf alte Bekannte treffen; die anderen, weil sie zum ersten Mal dieses hohe Haus betreten.

Wirklich anders ist das auch auf dem Schulhof nicht gewesen, wenn die Alten lästernd die Neuen beäugen und die Neuen ein bisschen vorsichtig zu den Alten aufschauen. Dazu passt dann auch noch Volker Kauder, der Unionsfraktionschef. Er betritt den Plenarsaal dermaßen stolz und breitbeinig, dass wirklich niemand Zweifel hegen sollte, wer in dieser Legislaturperiode Chef auf dem Schulhof sein möchte.

Es ist Tag eins der neuen Legislaturperiode. 631 Abgeordnete werden in den kommenden vier Jahren über die Geschicke Deutschlands entscheiden. So jedenfalls sagt es die Theorie über den Einfluss und die Unabhängigkeit der Abgeordneten, an die wenig später der alte und neue Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnern wird. Hier ist der Ort, hier wird entschieden - so will es Lammert. Und so sagt er das auch, laut und deutlich, seit nunmehr acht Jahren. Am Mittag wird seine dritte Amtszeit beginnen. Natürlich ist das der Tag, an dem er die Macht des Parlaments noch einmal besonders hervorhebt.

Roth und Schmidt überspielen mögliche Nervositäten

Jetzt freilich, kurz vor elf, ist davon noch nicht die Rede. Statt dessen plaudern viele alte Bekannte fröhlich-freundlich miteinander, machen Handyfotos, scherzen. Auch Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maiziere bilden so ein Plauder-Pärchen. Der eine war einst Vizekanzler, der andere Chef des Kanzleramtes. Wer weiß schon, was aus beiden wird in den nächsten Jahren, in denen sie wohlweislich wieder zusammen regieren.

Wenige Meter davon entfernt zupft Johannes Singhammer an seinem sehr schwarzen Anzug und der sehr gelben Krawatte. Er will schön sein, wenn am frühen Nachmittag seine Wahl zum stellvertretenden Parlamentspräsidenten ansteht. Andere, die das gleiche Ziel haben, Claudia Roth von den Grünen beispielsweise oder auch Ulla Schmidt, die Sozialdemokratin, überspielen mögliche Nervositäten, indem sie sich einfach gleich um den Hals fallen. Soll bloß keiner kommen und ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.

Wieder andere sind zwar wieder da, wissen aber noch gar nicht, wo sie künftig hingehören werden. Dazu zählt beispielsweise Annette Schavan, die ehemalige Bildungsministerin. Sie hat sich in die letzte Reihe zurückgezogen. Das schützt vor übertriebenen Freundlichkeitsgesten. Wobei, man muss das sagen, die Freundlichkeiten am ersten Tag einer Wahlperiode schon eine sehr große Rolle spielen.

Das merkt man, als um Punkt elf Uhr der Gong ertönt, alle sich von ihren Plätzen erheben und Heinz Riesenhuber unter Beweis stellen darf, dass er als Alterspräsident mindestens genauso langsam, stolz und gravitätisch zu seinem Platz schreiten kann wie Norbert Lammert. Riesenhuber ist mittlerweile 77. Mehr lächelnd als ernst gemeint fragt er ins Halbrund, ob es einen oder eine ältere gäbe. Als sich niemand meldet, eröffnet er die Sitzung und sorgt dafür, dass alle erst mal sehr viel Beifall klatschen. Beifall für einige lockere Sätze. Vor allem aber Beifall für die Gäste auf der Tribüne. Dazu zählt der Bundespräsident, natürlich ist Joachim Gauck an so einem Tag anwesend. Dazu zählt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Dazu zählen Horst Köhler, Rita Süssmuth und der an diesem Tag Geburtstag feiernde Wolfgang Thierse.

Und dann, man hätte sie ja fast schon vergessen, gibt es ziemlich viel Beifall auch für die wenigen Freien Demokraten, die dieser für die FDP auch irgendwie historischen Sitzung beiwohnen. Darunter sind ein paar Ex-Abgeordnete, die ohnehin ausgeschieden wären, der Verteidigungspolitiker Rainer Stinner zum Beispiel. Von den Ministern dagegen wollte sich trotz einer persönlichen Einladung keiner der Schmach aussetzen. Und von den Abgeordneten, die vom Total-Rauswurf überrascht wurden, hat nur Pascal Kober, der Pfarrer aus Baden-Württemberg, die Kraft gefunden, zu kommen. Dass Riesenhuber für sie noch mal Applaus organisiert, hat ihm den Tag sicher erleichtert.

Lammert hat es da schon wesentlich leichter. Er wird mit satter Mehrheit wieder gewählt und muss danach kurz mit der eigenen Rührung kämpfen. Was so etwas wie der emotionale Höhepunkt ist an diesem 22. Oktober. Denn nach seiner Wiederwahl kippt ein wenig die Stimmung. Es kommt, was die große Koalition provoziert hat: eine kurze und scharfe Debatte darüber, dass Union und SPD künftig sechs Stellvertreter Lammerts durchgesetzt haben. Das hatten sie als quasi ersten Akt gemeinsamen Regierens beschlossen und sich jeweils zwei Stellvertreter zugesprochen. So geht das, wenn die Macht da ist.

Es gab schönere Momente in Oppermanns Parlamentarierleben

Allerdings bekommen ihre beiden ersten parlamentarischen Geschäftsführer sofort zu spüren, wie unangenehm es sein kann, diese Macht auszunützen. Als erst Michael Grosse-Brömer von der CDU und danach Thomas Oppermann von der SPD versuchen, die Aufstockung zu begründen, geben sie keine gute Figur ab. Der erste bittet darum, doch darüber jetzt nicht zu streiten; der zweite erklärt gar, dass es gemessen am Wahlergebnis für die Opposition noch schlimmer hätte kommen können. Ein Blick auf die ersten Reihen von Union und SPD genügt in diesen kurzen Momenten, um zu kapieren: Die allermeisten schauen sehr strikt auf den Boden, verschämt muss man das wohl nennen.

Und so wird aus einer Demonstration der Macht durch die Großen ein erster Punktgewinn für die Kleinen. Insbesondere die neue Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, bringt Oppermann in Verlegenheit. Mit hochrotem Kopf muss der SPD-Hoffnungsträger zuhören, als Haßelmann trocken erklärt, dass man nun eben gut erkennen könne, wie schnell er "den Schalter umgelegt" habe. Den Schalter vom CDU-kritischen Oppositionspolitiker zum Mitorganisator neuer Machtstrukturen. Man sieht Oppermann an, dass es schönere Momente gegeben hat in seinem Parlamentarierleben.

Gewählt werden am Ende alle sechs. Und so lässt alles zusammen schon am ersten Tag erahnen, wie die nächsten vier Jahre laufen werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1801079
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.10.2013/kjan
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.