Süddeutsche Zeitung

Konservatismus:Zukunft, aber langsam

Kann Konservatismus aufgeklärt und modern sein - und in der CDU daheim? Was Christdemokraten umtreibt, die diesen großen Begriff nicht an Traditionalisten oder Reaktionäre abgeben mögen.

Von Cornelius Pollmer, Magdeburg/Berlin

Forscher der Freien Universität Berlin stellten vor einer Weile 1400 Bürgern Fragen zu Demokratie und Gesellschaft. Eine davon zielte darauf ab, ob Deutschland mit maßvollen Reformen hinreichend zu helfen sei oder nicht. Das Ergebnis der Studie in diesem Aspekt ist noch recht gut in Erinnerung, weil es zu einer heiteren Schlagzeile in einem alternativen Blog führte - "Die Deutschen sind besser als ihr Ruf: 20 Prozent für Revolution".

Es gibt also gar nicht so wenige Revolutionäre in Gedanken, immerhin. Aber erst die Gegenprobe führt zu den politischen Einstellungen der Mehrheiten, zu Wünschen wie denen nach Stabilität oder sogar einer Aufrechterhaltung des Status Quo. Für die, die so denken, gibt es den amorphen Begriff des "Konservativen". Für die, die so wählen, gab es lange Zeit hauptsächlich eine Adresse, die Union.

Die, die so denken und wählen, existieren weiterhin, aber mit der Orientierung ist es schwieriger geworden. Weil erstens Parteien und Politiker sich verändern. Heute argumentieren Grüne wie Winfried Kretschmann auf Buchlänge "für eine neue Idee des Konservativen", und genauso gibt es Christdemokraten, die nicht als konservativ gelten wollen, und sei es nur, um den damit einhergehenden Begriffsmuff aus hundert Jahren zu vermeiden. Zweitens hat genau dieser Begriff des Konservativen selbst eine kleine Karriere hingelegt. Konservatismus will heute oft "aufgeklärt" sein oder "zeitgemäß" oder noch besser: "modern". Moderner Konservatismus. Geht das überhaupt?

"Weite Teile der bürgerlichen Elite haben diesen Begriff aufgegeben"

Eine mögliche Antwort weiß der Historiker Andreas Rödder, der sich nicht nur beruflich intensiv mit Konservatismus auseinandersetzt, sondern praktischerweise auch privat von dessen Richtigkeit überzeugt ist. Muss echter Konservatismus immer irgendwie auch modern sein? Oder liegt hier ein kaum aufzulösender Widerspruch? Rödder sagt, die modische Wendung versuche, "den Konservatismus von traditionellem oder reaktionärem Denken abzugrenzen, denn in der öffentlichen Debatte werden diese Dinge allzu oft gleichgesetzt". Der Konservatismus selbst habe diese Abgrenzung gar nicht nötig, die Debatte darum jedoch schon.

In dieser Gleichsetzung, sagt Rödder, liege auch ein Grund, warum Konservatismus sich im Diskurs oft schwer tue, warum er zuweilen muffig wirkt und nicht so veränderungsumarmend wie der Liberalismus oder so sozial friedensstiftend wie die Sozialdemokratie. Die frühere Verbindung deutscher Konservativer zu illiberalem Denken und auch die teilweise Nähe zum Nationalsozialismus würden das Etikett "konservativ" bis heute delegitimieren. "Weite Teile der bürgerlichen Elite", sagt Rödder, "haben diesen Begriff deswegen aufgegeben".

Zudem sei es ein Problem des Konservatismus, dass er historisch - anders als Liberalismus oder Sozialismus - "nie eine inhaltliche Programmschrift" gehabt habe, sagt Rödder. Er sei daher schwerer greifbar, definierbar. Nach Ansicht des Historikers geht es vor allem um gewisse Grundlagen des Denkens: Konservative "pflegen Skepsis gegenüber Gewissheiten, sie gehen von Erfahrung und Pragmatismus aus, statt von Ideologie oder Utopie", sagt Rödder. "Sie setzen auf Zivilgesellschaft, nicht auf staatliche Intervention."

Wie setzt sich solche Theorie in politische Praxis um? Ein Besuch bei Holger Stahlknecht in Magdeburg. Stahlknecht, 54, ist Chef des CDU-Landesverbandes und Innenminister Sachsen-Anhalts, er gilt als konservativ und als wahrscheinlicher Nachfolger des jetzigen Ministerpräsidenten Haseloff. In zwei Jahren ist die nächste Landtagswahl und bei einem Parteitag vor der vergangenen Wahl warb Stahlknechts Partei tatsächlich mit einer Variante des immergrünen Adenauer-Satzes: "Keine Zeit für Experimente"!

Für Stahlknecht besteht konservatives Denken darin, Werte wie Würde und Disziplin zu achten, Anstand und Höflichkeit, "oder nehmen Sie die preußischen Tugenden. Es gibt den Satz ohne Fleiß kein Preis, den hat schon meine Großmutter gesagt, und ich sage ihn auch". Das habe nichts Traditionalistisches oder Reaktionäres. Denn der Reaktionär, sagt Stahlknecht, "will Dinge zurückdrehen. Deswegen ist die AfD eine zutiefst reaktionäre Partei und keine konservative".

Dass es mindestens aus Sicht der Wähler offenbar Unschärfen gibt, liegt nicht allein an schwer zugänglichen Begriffen. Es gebe, sagt Stahlknecht, in seiner Partei welche, die riefen: Wir müssen konservativer werden! "Diese meinen aber damit nichts anderes als einen Rechtsruck. Aber rechts ist auch nicht konservativ." Und jene, die am lautesten riefen, "sind aus meiner Sicht oft die, die selbst am wenigsten konservativ sind. Und sie schaden dem Begriff". Denn auch wegen solcher Rufe entstehe "dieses Bild, das konservativ laut, rechts und, ja, irgendwie brachial ist."

Vermeiden lassen sich die Assoziationen "rechts" oder "reaktionär" leichter, wenn der allgemeine Begriff des Konservativen mit zeitgemäßen und konkreten Inhalten belebt wird. Stahlknecht nennt die Abschaffung der Wehrpflicht, die Ehe für alle oder die Perspektive einer Energiewende als Positionen, die früher unter Konservativen undenkbar gewesen wären, es jetzt aber nicht mehr sind. Das setze sich auch fort in Kleinigkeiten wie dem Kleidungsstil. In Summe: Wer sich unter konservativ noch immer den älteren Herren vorstelle, "der mit verstaubten Ansichten und einer dicken Zigarre durch die Gegend läuft", der habe kein gegenwärtiges Bild. Dieses Bild entspricht nicht einmal Stahlknecht selbst - explizit nicht allein deswegen, weil er in seinem Büro im Ministerium keine Zigarre raucht. Er raucht Pfeife.

Merkel hat das konservative Profil ihrer Partei nicht vernachlässigt

Laut, rechts und brachial sind drei Wörter, die einem garantiert nicht einfallen, wenn man Diana Kinnert gegenüber sitzt. Kinnert, 28, hat noch vor Kretschmann in Buchform für modernen Konservatismus plädiert und sie vermisst diesen auch in ihrer Partei, der CDU. Die Haltung der Werteunion etwa, die sich selbst als konservativer Flügel der CDU bezeichnet, findet sie "befremdlich". Es sei "illiberal und anmaßend, Kultursymbole vorzugeben und sie über einen Sittengehorsam einzufordern". Mit solchen "Scheinkonservativen" kann Kinnert wenig anfangen, ebenso wie mit den Reaktionären innerhalb der CSU.

Für Kinnert sind Stabilität und Vertrauen "die einzig wichtige Prämisse einer konservativen Denkweise". Planvoll vorgehen, nicht hysterisch. Das könne auch heißen, in der Wirtschaft alles zu verändern. "Disruption ist dort konservativ, weil sie sicherstellt, dass Wohlstand generiert wird und wir damit soziale Sicherheit für ein Morgen garantieren können." Aber Veränderung müsse sich an Machbarkeit orientieren. Und wenn ein Progressiver fordere, ab morgen müsse es in allen Restaurants Toiletten für nicht-binär definierte Geschlechter geben, dann sei das nicht konservativ: "Konservativsein ist per se langsam".

Angela Merkel, von der es sonst heißt, sie habe das Konservative im Profil der CDU mindestens vernachlässigt, ist nach Kinnerts Verständnis in dieser Frage unverdächtig. Die Kanzlerin habe sich "einer sich verändernden Umwelt, die moderner und liberaler wird, angepasst. Sie versteht, dass Wirklichkeit vor Ideologie steht", sagt Kinnert. Und kommt bald auf jenen Zitatklassiker, demnach konservativ sein bedeute, Wandel zu gestalten, aber ihn so zu verlangsamen, dass er erträglich werde. Darunter kann notwendigerweise sehr vieles verstanden werden. Eine Revolution gehört eher nicht dazu.

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SZ vom 30.04.2019/swi
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