Konsequenzen aus dem Amoklauf von Newtown:Mächtige, ohnmächtige Waffenlobby

Fünf Tage lang hat er geschwiegen, jetzt meldet sich der größte Waffen-Fanclub der Welt zu Wort: "Schockiert und tieftraurig" zeigt sich die NRA nach dem Amoklauf von Newtown. Die vier Millionen Mitglieder starke Organisation steht unter Druck. Ihr Ruf, die amerikanische Politik unter Kontrolle zu haben, könnte sich als Mythos erweisen.

Von Michael König

Es sind 81 Wörter, die der National Rifle Association (NRA) zum Amoklauf von Newtown einfallen. "Schockiert, traurig und gebrochenen Herzens" seien die Mitglieder in Anbetracht der "entsetzlichen und sinnlosen Morde" an der Sandy-Hook-Grundschule, heißt es in einer Mitteilung. Die Organisation sei bereit, einen "sinnvollen Beitrag" zu leisten, damit so etwas nie wieder passiere. Sie habe sich "Zeit für Trauer, Gebete und eine Untersuchung" gelassen und reagiere deshalb erst jetzt auf das Massaker. Am Freitag will die NRA Details auf einer Pressekonferenz verkünden.

Fünf Tage sind seit der Bluttat von Newtown vergangen, bei der 27 Menschen, darunter 20 Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren, getötet wurden. Durch die Kugeln eines Sturmgewehrs, legal erworben von der Mutter des Attentäters. Fünf Tage Schweigen, das ist für NRA-Verhältnisse nicht einmal besonders lang: Nach dem Massaker von Aurora in Colorado im Juli 2012 hatte es doppelt so lange gedauert, bis sich die Organisation via Twitter zu Wort meldete.

Diesmal sind die Vorzeichen anders. Diesmal ist der Druck auf die vier Millionen Mitglieder starke Organisation größer. In den vergangenen Tagen forderten nicht nur Demokraten wie Dianne Feinstein eine Verschärfung des Waffenrechts, um Verbrechen wie in Newtown künftig zu erschweren. Auch mehrere Republikaner und NRA-Mitglieder warfen ihre Pro-Waffen-Argumente über Bord und sprachen sich öffentlich für mehr Gun Control aus.

"Schießkunst auf wissenschaftlicher Basis fördern"

Schließlich stimmte Barack Obama einem konkreten Vorschlag Feinsteins zu: Sturmgewehre und Magazine mit mehr als zehn Schuss Munition könnten künftig verboten werden. Eine entsprechende Verordnung gab es bereits von 1994 bis 2004. Für die NRA wäre die Wiederauflage ein herber Schlag.

Was genau die NRA ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Je nach Auslegung ist sie der Dachverband der amerikanischen Sportschützen, die Lobby der amerikanischen Waffenindustrie oder eine Bande schießwütiger Fanatiker. Alle drei Sichtweisen lassen sich begründen.

Gegründet wurde die gemeinnützige Organisation im Jahr 1871 in New York von Colonel William Church und General George Wingate, zwei Veteranen des Amerikanischen Bürgerkrieges, die angesichts der schlechten Treffsicherheit ihrer Soldaten "die Schießkunst auf wissenschaftlicher Basis fördern und verbessern wollten".

Heute beschäftigt die NRA nach eigenen Angaben 55.000 Ausbilder, die jährlich etwa 750.000 Waffenbesitzer unterrichten. 2800 Ausbilder widmen sich allein der Jugendarbeit. Schon Kindergarten- und Schulkinder werden an den Umgang mit Waffen gewöhnt. Im "Eddie Eagle Gun Safety Program" sollen sie lernen, Waffen nicht zu berühren, wenn kein Erwachsener in der Nähe ist. Für ältere Mitglieder bietet die NRA Kurse an mit Titeln wie: "Weigere dich, ein Opfer zu sein".

Lobbyarbeit stand zunächst nicht im Fokus der NRA. Erst 1975 riefen die Mitglieder eine Unterorganisation ins Leben, das Institut for Legislative Action (NRA-ILA). Offiziell hat sie die Aufgabe, den zweiten Zusatz der amerikanischen Verfassung vor der Politik zu beschützen. Der lautet: "Da eine wohlorganisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden."

Befürworter strengerer Waffengesetze sehen in dem ersten Teil des Satzes eine Zweckbestimmung. Das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, bezieht sich demnach auf Milizionäre oder das Militär. Als der Passus 1791 verabschiedet wurde, gab es in den USA noch keine funktionierende Ordnungsmacht.

Die NRA betont hingegen den zweiten Teil des Satzes und findet für dafür immer wieder Bestätigung. Zum einen, weil Gerichte in den USA immer wieder ihrer Interpretation folgten, wonach das ganze Volk gemeint sei. Zum anderen, weil es kaum ein Politiker wagte, sich mit der NRA anzulegen. Dabei ist umstritten, wie mächtig die Waffenlobby wirklich ist.

"From my cold, dead hands"

Die NRA wird von Politikern geachtet und gefürchtet, weil ...

  • ... sie vier Millionen Mitglieder hinter sich versammelt - so viele wie keine andere Waffenlobby auf der Welt. Jedes Mitglied ist ein potentieller Wähler.
  • ... die Mitglieder als besonders engagiert gelten. "Sie besuchen mehr Wahlkampfveranstaltungen, klingeln an mehr Haustüren und machen mehr Telefonanrufe für ihre favorisierten Politiker als andere Gruppen", schreibt das US-Magazin Slate.
  • ... sie die hohe Mobilisierung ihrer Mitglieder mit viel Geld unterstützt. 2010 investierte die NRA ein Viertel ihrer Gesamtausgaben in die interne Kommunikation, berichtet die Huffington Post. Die Budgets für Lobbyismus und Werbekampagnen fielen deutlich kleiner aus.
  • ... die NRA traditionell den Republikanern besonders nahe steht, sich aber auch für Demokraten einsetzt, sofern diese in ihrem Sinne abstimmen. "Weil sie so flexibel ist, werben beide Parteien um ihre Zustimmung", schreibt die Huffington Post. "Wenn sich im Kongress die Nachricht herum spricht, dass die NRA ein Vorhaben unterstützt, fühlt sich das an wie eine Welle", berichtet die demokratische Kongressabgeordnete Janice Schakowsky aus Illinois.
  • ... sie im Stile einer Ratingagentur Politiker bewertet. Nur wer mit den Zielen der NRA zu 100 Prozent übereinstimmt, erhält die Bestnote und kann bei Wahlen mit den Stimmen ihrer Mitglieder rechnen.

Liberale Kritiker halten den Einfluss der NRA jedoch für überschätzt. Ihre Macht sei ein "Mythos", der allein darauf beruhe, dass Medien und Politik ihn stetig zitierten, kritisiert etwa der amerikanische Journalist Daniel Gross. Es sprechen einige Fakten für seine These:

  • Obwohl die NRA vor der Wahl 2012 kräftig gegen Barack Obama trommelte und 19 Millionen Dollar ausgab, um Wahlkampf gegen ihn und für Befürworter laxer Gesetze zu machen, war das Ergebnis für die Lobby ernüchternd. Mehr als 99 Prozent des Geldes sei in die Wahlkämpfe erfolgloser Politiker geflossen, rechnete Gross nach der Wahl im November vor.
  • Demnach investierte die NRA jeweils mehr als 100.000 Dollar für sieben Senatskandidaten - von denen sechs die Wahl verloren. Zwei Drittel der Abgeordneten im Kongress, die ihre Ämter verloren, seien von der NRA unterstützt worden.
  • 2012 ist offenbar kein Einzelfall: Der liberale Autor Paul Waldman hat die Bedeutung der NRA für Wahlausgänge von 2004 bis 2010 erforscht und festgestellt, dass die Unterstützung der Waffenlobby "nahezu keinen Einfluss auf das Ergebnis der Kongresswahlen hatte".
  • Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Mehrheit der NRA-Mitglieder eine viel gemäßigtere Linie vertritt, als die Vereinigung und ihr Präsident David Keene öffentlich glauben machen. Im Juli 2012 wurde eine Umfrage öffentlich, wonach sich 74 Prozent der befragten NRA-Mitglieder dafür aussprachen, Waffenkäufer verbindlich auf ihre kriminelle Vergangenheit zu überprüfen. Die NRA selbst ist gegen diese Regel.

Ob sich eine rigidere Waffenpolitik in Washington durchsetzt, ist unklar. Das Verbot von Sturmgewehren und Hochkapazitäts-Magazinen mag nach dem Amoklauf von Newtown gute Chancen haben, ist angesichts von etwa 270 Millionen Schusswaffen im Besitz von Amerikanern aber eher ein kleiner Schritt hin zu größerer Waffenkontrolle.

Weitreichendere Maßnahmen wird die NRA zu verhindern versuchen. Gemäß des Leitspruches ihres langjährigen Präsidenten Charlton Heston: "I'll give you my gun when you take it from my cold, dead hands" - "Ich gebe euch meine Waffe, wenn ihr sie mir entreißt - aus meinen toten, kalten Händen."

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