Nahost:Alles unter Kontrolle?

Irans Präsident Rohani lockert die Bekleidungskontrollen, der saudische König Abdullah hat die Macht der Sittenpolizei eingeschränkt. Öffnen sich die islamischen Gesellschaften jetzt per Dekret? Ein Überblick über religiöse Moral und ihre Kontrolle in Bildern.

Von Anna Günther und Isabel Pfaff

Nahost

Moralapostel auf dem Rückzug?

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(Foto: AFP)

Unverschleiert aus dem Haus gehen, Bus fahren mit dem anderen Geschlecht oder auch einfach nur am Steuer eines Autos sitzen: In den muslimisch geprägten Gesellschaften des Nahen Ostens ist vieles verboten, vor allem für Frauen. Für die Durchsetzung der Regeln sorgt entweder eine Sittenpolizei oder die konservative Gesellschaft selbst - dank einer effizienten sozialen Kontrolle. Doch es gibt Anzeichen, dass der staatliche Eingriff in die freie Lebensgestaltung geringer wird. Ob diese Anzeichen auch zu einer echten Veränderung werden? Süddeutsche.de zeigt, wie es um die Moral und ihre Kontrolle in den wichtigsten Ländern der Region steht. Im Bild: Saudische Mädchen beim Fußballtraining - abgeschirmt von männlichen Blicken.

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Iran: Dieser Erlass deutet eine Liberalisierung an: Die iranische Polizei darf vorerst keine Bekleidungskontrollen mehr durchführen, bei denen bislang die Verschleierung von Frauen oder die Ärmellänge der Männer geprüft wurden. Der als moderat geltende Präsident Hassan Rohani hat eine Kommission des Innenministeriums damit beauftragt, den strengen Dresscode und seine Durchsetzung zu überprüfen. Eine weniger strenge Kontrolle der persönlichen Lebenssphäre zählt zu den Wahlkampfversprechen des im August gewählten Rohani. Experten interpretieren den Erlass als Versuch, die staatliche Sphäre gegenüber der geistlichen zu stärken. An den strikten Kleiderkontrollen wird der Beschluss Rohanis wahrscheinlich jedoch wenig ändern, denn die führt hauptsächlich die strenge iranische Moralpolizei durch. Die "Basij" sind Spezialeinheiten, die dem geistlichen Oberhaupt und faktisch mächtigstem Mann im Staat, Ayatollah Ali Chamenei, unterstehen. Auf die hat der Präsident keinerlei Einfluss. Doch Chamenei toleriert Rohanis gemäßigten Kurs bisher, weshalb die Basij im Moment zurückhaltend auftreten. Rohani, so urteilen Beobachter, sei gerade dabei, die Grenzen des Möglichen auszutesten. Ein Wort des religiösen Führers genügt aber, um das Experiment des neuen Präsidenten zu beenden. Im Bild: Eine Frau sitzt in einem Fahrzeug der iranischen Moralpolizei (Archivbild von 2008).

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(Foto: AFP)

Ägypten: Eine staatliche Tugendpolizei gab es in Ägypten noch nie, aber die soziale Kontrolle in diesem konservativen Land ist auch so sehr effizient. 95 Prozent der Ägypterinnen gehen nur verschleiert auf die Straße, laut einer UNICEF-Studie sind 91 Prozent der Frauen beschnitten, arrangierte Ehen sind üblich und junge Paare müssen beim Buchen eines Hotelzimmers die Heiratsurkunde vorzeigen. Die Demonstrationen des Arabischen Frühlings haben daran nichts geändert, die Gewalt allgemein und besonders gegen Frauen hat in den vergangenen drei Jahren sogar deutlich zugenommen. Laut einer aktuellen Studie der Thomas-Reuters-Stiftung sind die Lebensbedingungen für ägyptische Frauen verglichen mit 21 anderen arabischen Staaten am schlechtesten. Den Frauen könnte sogar ein weiterer Rückschritt drohen: Nach der Entmachtung der Muslimbrüder soll nun eine neue Verfassung ausgearbeitet werden, die zweite seit dem Sturz Mubaraks. Erneut drängen die ultrakonservativen Salafisten darauf, dass die Gleichstellung zwischen Mann und Frau in der Verfassung nur bedingt gilt - wenn sie der Scharia nicht widerspricht. Im Bild: Eine Ägypterin protestiert gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen. Auf ihrem Schild steht: "Sie vergewaltigen uns in den Straßen, weil sie Angst vor uns haben - und das sollten sie auch!"

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Saudi-Arabien: Saudi-Arabien ist eine Monarchie und gilt als das strikteste islamische Land der Region. Auch dort gibt es eine Moralpolizei, wörtlich übersetzt die "Behörde für die Verbreitung von Tugendhaftigkeit und Verhinderung von Lastern". In den 1930ern als informelle Gruppe gegründet, handelt es sich inzwischen um eine vollwertige staatliche Behörde. An ihrer Spitze steht seit 2012 der islamische Gelehrte Sheikh Abdulatif Al al-Sheikh, der sich in den vergangenen Monaten mit gemäßigten Kommentaren zu Sittenkontrollen hervorgetan hat. "Die islamische Scharia beinhaltet keinen Passus, der Frauen das Fahren verbietet", sagte Al al-Sheikh beispielsweise im Zusammenhang mit den Protestkorsos von Auto fahrenden saudischen Frauen im Oktober. Es gab auch keine Berichte über Festnahmen, mit denen die Polizei den protestierenden Fahrerinnen im Vorfeld gedroht hatte. Unter al-Sheikhs Leitung gingen auch die aggressiven Kontrollen der Moralpolizei an öffentlichen Plätzen zurück, bei denen zum Beispiel die Kleidung von Passanten überprüft wird. Außerdem setzt er eine Reform um, die der saudische König Abdullah vor zwei Jahren beschlossen hat: Demnach muss die Moralpolizei Verstöße zunächst vor ein geistliches Gericht bringen, bevor sie Strafen vollstrecken darf. Insgesamt ist im Land eine Lockerung zu spüren, die auf den ersten Blick geringfügig erscheint, für Saudi-Arabien aber bemerkenswert ist. An der strikten Kontrolle von Frauen und Mädchen ändern die zarten Reformen aber wenig: Ohne die Erlaubnis ihres männlichen Vormunds dürfen Frauen weiterhin weder reisen, noch zum Arzt gehen oder sich an der Universität einschreiben. Im Bild: Ein Zettel warnt eine weibliche Autofahrerin in Saudi-Arabien davor, das Fahrverbot für Frauen erneut zu brechen.

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Gazastreifen: Nur 17 Prozent der Palästinenserinnen im Gazastreifen arbeiten, die Analphabeten-Quote liegt bei knapp 93 Prozent. Ihre Tugendhaftigkeit wird Gerüchten zufolge von einer weiblichen Taskforce der zivilen Sittenwächter, verschleiert bis auf den Sehschlitz, überwacht. Offiziell bestreitet die Hamas-Regierung zwar die Existenz einer Sittenpolizei, doch seit die Palästinenser-Organisation 2007 im Gaza-Streifen die Macht übernommen hat, sprechen Wissenschaftler von zunehmender Islamisierung der Gesellschaft. Direkter Druck auf die Bevölkerung wird nicht ausgeübt, doch Mitarbeiter des Innen- und Bildungsministeriums etwa wurden durch regimetreue Angestellte oder gar Kleriker ersetzt. Sie üben indirekt Einfluss auf die Bevölkerung aus und sollen sie zu einer islamischeren Lebensführung anhalten, in der für Gefahren wie Kartenspiel, Dating oder unangemessene Kleidung kein Platz ist. Im Bild: Weibliche Mitglieder der Hamas-Sicherheitskräfte bei einer Aufnahmezeremonie für neue Rekrutinnen in Gaza-Stadt im Jahr 2011.

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(Foto: REUTERS)

Türkei: Seit seinem Amtsantritt vor etwa zehn Jahren versucht der konservative türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die Religion in der türkischen Gesellschaft wieder stärker zu verankern und eine religiöse Generation heranwachsen zu lassen. Deshalb bricht er beständig mit politischen Tabus, die dem Streben der Türkei nach Europa eher schaden: Erst Ende September hatte er angekündigt, das Kopftuchverbot für Angestellte des öffentlichen Dienstes zu kippen. Künftig soll die Regelung nur noch für Angehörige von Polizei, Justiz und Armee gelten. Proteste lösten die jüngsten Besuche der Polizei in Privatwohnungen von Studentinnen aus. Hinter verschlossenen Türen soll Erdogan die Geschlechtertrennung in türkischen Studentenwohnheimen auch für Privatwohnungen gefordert haben. Wenn nötig werde er Rechtsänderungen vornehmen, um illegale Lebensweisen zu verhindern, sagte er Berichten zufolge. Im Bild: Studenten in Istanbul protestieren gegen die Wohnungsdurchsuchungen der Polizei Anfang November 2013.

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