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Konflikte - Gelsenkirchen:Antisemitismus: Staatsschutz ermittelt, Sitzung im Landtag

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Düsseldorf (dpa/lnw) - Die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Nordrhein-Westfalen beschäftigen nun auch den Staatsschutz und den Düsseldorfer Landtag. CDU und FDP haben eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt, wie die FDP-Landtagsfraktion am Freitag mitteilte. Unter anderem solle es um den Polizei-Einsatz in Gelsenkirchen gehen. In Düsseldorf und Solingen ermittelt der Staatsschutz wegen angezündeter Israel-Flaggen.

Antisemitische und anti-israelische Ausschreitungen hatte es in den vergangenen Tagen in Gelsenkirchen, Solingen, Düsseldorf, Münster und Bonn gegeben, ebenso wie in weiteren deutschen Städten. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte im "Morgenecho" von WDR 5, es sei "erschreckend, nicht akzeptabel, unerträglich, wenn auf deutschem Boden antisemitische Parolen skandiert werden".

Bereits am Donnerstagabend hatte der Minister in der "Aktuellen Stunde" (AKS) des WDR-Fernsehens einen umstrittenen Polizei-Einsatz an der Gelsenkirchener Synagoge verteidigt. Dort hatte eine Polizeikette am Mittwochabend einen antisemitischen Demonstrationszug gestoppt.

In einem per Twitter verbreiteten Video des Zentralrats der Juden sind Sprechchöre mit antisemitischen Inhalten zu hören. Zu sehen sind Menschen unter anderem mit palästinensischer, türkischer und tunesischer Flagge. Das Video zeigt, dass Beamte trotz der Parolen nicht eingreifen.

Am Freitagabend versammelten sich mehrere hundert Menschen an der Synagoge Gelsenkirchen, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Nach Angaben der Polizei nahmen rund 300 Menschen teil. Sie folgten damit einem Aufruf der Gelsenkirchener "Initiative gegen Antisemitismus". Angesichts der zahlreichen Teilnehmer der Solidaritätskundgebung sagte die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach: "Das tut gut." Sie berichtete von zahlreichen Solidaritätsbekundungen, die die Gemeinde nach der antisemitischen Demonstration erhalten habe.

"Das ist unerträglich, was da passiert ist, aber die Polizei hatte keine andere Möglichkeit", sagte Reul in der AKS. Es habe sich um eine spontane Aktion gehandelt. "Plötzlich kamen 180 Leute." Hauptziel sei gewesen, die Synagoge zu schützen.

Auf Festnahmen Tatverdächtiger war laut Mitteilung der Polizei zunächst verzichtet worden. Reul sagte dazu: "Umkesseln und dann einzeln Identitäten feststellen kann man nur machen, wenn man 100 Polizisten am Ort hat." Es gebe aber Beweismittel, die nun ausgewertet würden. "Ich bin saufroh gewesen, dass die eine Gruppe Polizisten da war und die Synagoge gesichert hat."

Als erster Tatverdächtiger war nach Polizei-Angaben vom Donnerstag bereits ein 26-jähriger Deutsch-Libanese identifiziert worden. Insgesamt seien die antisemitischen Ausschreitungen einem gemischten Täterspektrum aus dem arabischen Raum zuzuschreiben, keineswegs nur palästinensischen Gruppen. "Da mischt sich unheimlich viel zusammen." In Gelsenkirchen seien zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, berichtete ein Polizeisprecher am Freitag. Ein zweiter Tatverdächtiger habe identifiziert werden können. Dabei handelt es sich um einen 30-jährigen Deutsch-Libanesen. Beide Männer sollen nun vernommen werden.

Ob die Parolen als Volksverhetzung einzustufen seien, werde strafrechtlich "mal so und mal so entschieden", sagte Reul. "Ich glaube das, was da passiert ist, müsste eigentlich ausreichen, aber das entscheiden Gerichte und nicht die Polizei." Auf die Frage, ob die Polizisten "zum Ohrenarzt oder zur politischen Fortbildung" müssten, weil in ihrem Bericht antisemitische Sprechchöre anfangs nicht einmal erwähnt worden seien, antwortete Reul, das sei direkt korrigiert worden.

Die Polizei habe Strafanzeigen gegen Unbekannt gefertigt - wegen Verdachts auf Volksverhetzung, Landfriedensbruchs, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Verstößen gegen die Corona-Schutzverordnung, berichtete der Sprecher des Gelsenkirchener Behörde.

Oppositionsführer Thomas Kutschaty (SPD) nannte die Bilder vom Mittwochabend verstörend und verlangte, den Polizei-Einsatz umfassend aufzuklären. Das wollen auch die Grünen. AfD-Landtagsfraktionschef Markus Wagner forderte "konkretes Handeln statt purer Symbolpolitik".

Die jüdischen Gemeinden mahnten an, die Sicherheitsmaßnahmen rasch zu verstärken. "Sollte die Politik jetzt jedoch zu viel Zeit verstreichen lassen, um das Leben und die Sicherheit der Juden zu schützen, dann könnte es passieren, dass wir scharenweise Deutschland den Rücken zukehren - auch wenn das die meisten eigentlich nicht möchten, weil Deutschland ihre Heimat ist", sagte der Landesvorsitzende der Jüdischen Gemeinden in NRW, Oded Horowitz, in einem WDR-Interview.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, sagte der "Rheinischen Post" (Samstag): "Wer angeblich Israelkritik üben will, dann aber Synagogen und Juden angreift, greift uns alle an."

Solidarität gab es auch aus den Kommunen: So hisste Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) am Freitag eine neue Israel-Fahne, kurz nachdem die vorherige vor dem Rathaus angezündet worden war. Die Bezirksregierung Münster zierte die Fassade ihres Dienstgebäudes am Domplatz mit einem Davidstern und einem Zitat von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 erklärt hatte: "Wir sind froh über jede Synagoge, über jede jüdische Gemeinde und über alles jüdische Leben in unserem Land."

Vor dem Rathaus in Hagen hingegen ist am Mittwoch eine israelische Fahne abgehängt worden, die am gleichen Tag gehisst worden war. Dieser Schritt habe "ausschließlich der Deeskalation" gedient und sei auf "dringende Aufforderung der Polizei" erfolgt, teilte die Stadt am Freitag mit. Das NRW-Innenministerium widersprach der Darstellung. Ein Sprecher erklärte, dass die Stadtverwaltung die Entscheidung, die Fahne abzuhängen, selbstständig gefällt habe. "Es gab keine Aufforderung dazu seitens der Polizei Hagen." Allerdings habe die Polizei die Stadt darauf hingewiesen, dass die Israel-Flagge innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu Unmut führe.

Die Kommune hatte wie viele andere Städte und Gemeinden am Mittwoch die israelische Flagge gehisst, um auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und Deutschland am 12. Mai 1965 hinzuweisen.

© dpa-infocom, dpa:210514-99-603048/2

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