Zerwürfnis zwischen Berlin und Ankara:Ob man die Türkei mag oder nicht, hat mit einem Mann zu tun

Pro-Erdoğan-Demo in Köln

Am Wochenende zeigten Tausende in Deutschland lebende Türken ihre Solidarität mit Erdoğan. Für viele Nichttürken unverständlich.

(Foto: Getty Images)

Misstrauen und Verdächtigungen bestimmen die deutsche Lesart der Geschehnisse in der Türkei. Zuzuschreiben hat sich das Erdoğan allein. Auch die Türken sind tief enttäuscht - von Europa.

Kommentar von Mike Szymanski, Istanbul

Das Parlament in Ankara ist ein europäischer Ort. Der Plenarsaal könnte genauso in jeder anderen Hauptstadt Europas stehen. Der österreichische Architekt Clemens Holzmeister hat den Komplex geschaffen. 1939 wurde der Grundstein gelegt. Damals war Holzmeister wie Hunderte andere deutschsprachige Intellektuelle in die Türkei emigriert. Das Land hatte seine Tore geöffnet für viele, die vor den Nazis flüchteten. Dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk und seinen Leuten kamen die Experten gelegen. Sie sollten sich mit ihrem Wissen am Aufbau einer dem Westen zugewandten, modernen Türkei beteiligen.

In der Nacht des Militärputsches vom 15. Juli 2016 haben Soldaten diesen symbolischen Ort unter Feuer genommen. Mit Maschinengewehren und Raketen legten sie Teile des Parlaments in Schutt und Asche. Die Abgeordneten fürchteten um ihr Leben. Wer die Geschichte dieses Ortes kennt, begreift: Dieser Angriff galt nicht nur der Türkei. Als Europäer hätte man sich genauso angegriffen fühlen können. Aber stattdessen keimten sofort Misstrauen und ein ungeheuerlicher Verdacht: War das wirklich ein Putschversuch? Hatte nicht möglicherweise Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan alles inszeniert, um seine Macht zu festigen?

Man kann sich nur wundern, was aus dem einst guten türkisch-deutschen Verhältnis - im Ersten Weltkrieg kämpfte man sogar auf einer Seite - geworden ist. Je mehr die beiden Länder einander angesichts von Flüchtlingskrise und Anti-Terror-Kampf bräuchten, desto rasanter entfernen sie sich voneinander. Jegliche gegenseitige Empathie scheint abhandengekommen zu sein.

Aus türkischer Sicht legten die deutschen Behörden ein gestörtes Demokratieverständnis an den Tag

Als am Sonntag in Köln Zehntausende deutsch-türkische Erdoğan-Anhänger den vereitelten Militärputsch in der Türkei mit einer Kundgebung feiern wollten, wurde sogleich Kritik in der deutschen Politik laut, innertürkische Konflikte dürften nicht in der Bundesrepublik ausgetragen werden. Dabei hatten sehr viele Türken in Deutschland das Geschehen in Istanbul und Ankara genauestens verfolgt. Die Demonstration wurde jedoch als ein Sicherheitsrisiko betrachtet. Ein Auftritt des türkischen Außenministers wurde verhindert, aus türkischer Sicht legten die deutschen Behörden ein gestörtes Demokratieverständnis an den Tag.

Dass das Verhältnis so zerrüttet ist, hat Erdoğan sich in erster Linie selbst zuzuschreiben. An seiner Politik gibt es nichts zu beschönigen: Seit dem Putschversuch geht seine Regierung unverhältnismäßig hart gegen Zehntausende vor. Dass das Leben Unschuldiger zerstört wird, nimmt die Regierung in ihrer von Rachegelüsten geleiteten Politik billigend in Kauf.

Wer heute an "die Türkei" denkt, der denkt nicht an ihre 79 Millionen Bürger und nicht mal an eine Partei, sondern nur noch an einen einzigen Mann: Recep Tayyip Erdoğan. Was er von sich gibt, erregt in Deutschland mittlerweile mehr Aufmerksamkeit als Worte von Putin oder Obama. Er hat in der Türkei einen Ein-Mann-Staat etabliert, sie ist auf diese Weise zum Ein-Mann-Land geworden. Die Entscheidung, die Türkei zu mögen oder nicht, hat bei vielen derzeit nur mit der Person des Präsidenten zu tun.

Vielleicht möchte Erdoğan, dass die Kanzlerin scheitert

Umgekehrt haben Europa und besonders Deutschland aus Sicht vieler Türken an Anziehungskraft verloren. Ein Referendum über einen EU-Beitritt würde derzeit wohl gegen Europa ausfallen. Die Enttäuschung ist groß. Und das verwundert nicht, denn es hat sich einiges angesammelt: In der Flüchtlingskrise scheitert die EU bereits an der Verteilung von einigen Zehntausend Menschen auf mehrere Mitgliedsländer - während in der Türkei drei Millionen Syrer Zuflucht gefunden haben.

Die Resolution des Bundestags, den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich als solchen zu bezeichnen, kam für die Türkei zu früh. Die türkisch-armenische Aussöhnung ist dadurch keinen Schritt vorangekommen. Türken und Armenier haben erst vor ein paar Jahren damit begonnen, gemeinsam zu trauern.

Im Anti-Terror-Kampf weiß die Türkei die Welt hinter sich, wenn es gegen den IS geht, und sie fühlt sich alleingelassen, wenn die kurdische PKK Bomben zündet. Nach dem Putschversuch heißt es, die Türkei solle ihre Probleme nicht ins Ausland tragen. Und die Aufhebung des Visumszwangs ist ebenfalls nicht in Sicht.

Deshalb droht Ankara nun, das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union platzen zu lassen. Erdoğan weiß, was Angela Merkel im aufziehenden Bundestagswahlkampf am meisten zusetzen würde: Bilder von vollen Flüchtlingsbooten in der Ägäis. Vielleicht würde Erdoğan Genugtuung empfinden, wenn die Kanzlerin scheitert. Aber es wäre wohl auch der zumindest vorläufige Schlusspunkt der deutsch-türkischen Zusammenarbeit.

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