Kompromiss:Bedarf statt Bedürftigkeit

Ob die Grundrente kommt, wurde zur Kernfrage der Koalition. Nun soll eine Einigung die Regierung retten - und 1,5 Millionen Senioren finanziell besserstellen.

Von Michael Bauchmüller und Mike Szymanski

Kompromiss: Drei Parteichefs verkünden die Einigung (v.l.): Markus Söder (CSU), Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Malu Dreyer (SPD).

Drei Parteichefs verkünden die Einigung (v.l.): Markus Söder (CSU), Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Malu Dreyer (SPD).

(Foto: John Macdougall/afp)

Lange Zeit ist an diesem Sonntag nicht klar, ob die große Koalition noch einmal die Kraft aufbringt, sich zusammenzuraufen. Es geht um mehr als nur die Grundrente, die auf der Tagesordnung steht. Es geht auch um die Zukunft dieses Bündnisses. Einer aus der Regierung, der das Gezerre seit Monaten verfolgt, formuliert es am Sonntagmorgen so: Eine Lösung muss her.

Als die Koalitionsspitze am Sonntagmorgen zusammenkommt, liegt noch zäher Nebel über der Spree. Er wird wenig später einem klaren Novemberhimmel weichen. Und auch drinnen schieben sie Probleme beiseite. Es geht um die Zeilen 4250 bis 4261 des Koalitionsvertrags. Zwölf Zeilen, die so viel Sprengkraft für das Bündnis entwickeln konnten. Darin sprechen sich die Partner zwar für die Grundrente aus. Aber zu welchen Bedingungen? Mit welchen Gegengeschäften? Um eine Woche war deshalb schon der Koalitionsgipfel verschoben worden, das hat den Druck nicht verringert. Und dann, am späten Nachmittag, treten die Parteichefs vor die Presse. Und plötzlich ist von einem "Meilenstein für den deutschen Sozialstaat" die Rede, von einer Belohnung für die Fleißigen im Lande. Für Fleißige, die am Ende nur eine winzige Rente erhielten.

Allein dass es nun eine Grundrente geben wird, ist beachtlich - denn die Idee ist so alt wie die Bundesrepublik. Ursprünglich ging es um eine Absicherung für die Opfer von Krieg und Vertreibung, später um Umverteilung und Sozialstaat: Vor allem der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf kämpfte für eine steuerfinanzierte Grundrente, später auch Grüne und PDS respektive Linkspartei. Darin steckt durchaus eine Systemfrage: Neben das Versicherungsprinzip wäre damit eine steuerfinanzierte Leistung getreten. Wer viele Steuern zahlt, hätte so auch mehr für bedürftige Rentner tun müssen, ohne gleichzeitig selbst höhere Ansprüche zu erwerben.

In der Rentenversicherung, wo die Höhe der Rente im Wesentlichen mit der Höhe der Einzahlungen und der Dauer der Erwerbstätigkeit zusammenhängt, ist das anders. An dem Unterschied scheiterten alle jüngeren Pläne für eine Grundrente. Es blieb die Grundsicherung auf dem Niveau von Hartz IV - und der Aufruf an Beschäftigte, selbst mehr Vorsorge zu leisten. Statt einer Grundrente aus Steuermitteln kam so unter Rot-Grün die Riester-Rente aus Eigenmitteln. Und auch die jetzt vereinbarte Grundrente ist nur ein Fragment der einstigen Idee, weil sie eben an die Erwerbszeiten anknüpfen soll und insbesondere an die Bedürftigkeit - so will es der Koalitionsvertrag. So gesehen vermischt sie das eine System mit dem anderen. Und genau das hat die Einigung so schwierig gemacht.

Alexander Dobrindt spricht in Medien von einer "Hubertus-Heil-Konfettikanone"

Noch am Wochenende ist die Stimmung gereizt. Über die Bild am Sonntag lässt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Sozialdemokraten wissen, dass die "Hubertus-Heil-Konfettikanone", mit der der Arbeitsminister einfach Geld verteilen wolle, "nicht abgefeuert" werde. Und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer brachte noch flott einen ganz neuen Vorschlag ins Gespräch. Das ganze Paket solle noch um "Maßnahmen zur Stärkung der betrieblichen und privaten Vorsorge" ergänzt werden, erfuhr der Koalitionspartner aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. So wurde die Sache gleich noch etwas komplexer. Schon vorige Woche hatte die Union die Verhandlungsmasse aufgestockt: Nötig seien Entlastungen für die Wirtschaft. Schließlich wolle jeder Cent, der verteilt werden solle, auch erst einmal erwirtschaftet werden.

Trotzdem: Am Sonntagnachmittag ist die Koalition bei semantischen Fragen angelangt. Die "Bedarfsprüfung" geht um. Bedarf ist etwas anderes als Bedürftigkeit. Ein Bedarf, die Rente aufzustocken, lässt sich leichter feststellen, etwa über die Einkommensteuererklärung. Der Verwaltungsaufwand ist geringer, und der Kreis der Berechtigten lässt sich dennoch beschränken. Zugleich aber klingt "Bedarf" fast so wie "Bedürftigkeit".

Entlang dieser Linie macht sich die Koalition auf den Weg zum Kompromiss: Eine "automatische Einkommensprüfung" soll nun klären, ob jemand Bedarf an Grundrente hat. Dies sei, so heißt es aus der SPD, "unbürokratisch und bürgerfreundlich". Bis zu 1,5 Millionen Menschen könnten davon profitieren. Das sind zwar weit weniger als jene drei Millionen Rentner, die nach SPD-Vorstellungen ursprünglich Grundrente bekommen sollten. Aber weit mehr, als nach einer strengen Prüfung der Bedürftigkeit übrig geblieben wären.

Bleibt nur die Frage, was die Koalitionspartner damit machen. Innerhalb der Unionsfraktion ist die Stimmung aufgeheizt. Am Wochenende unterstellte Uwe Schummer, Chef der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, seinem Fraktionsvize Carsten Linnemann, er "zocke gegen die Grundrente", um die Koalition zu zerstören und dann eine Minderheitsregierung mit der AfD aufzuziehen. Wenige Stunden später entschuldigte er sich.

In der SPD geht es an diesem Wochenende zwar ruhiger zu. Doch die Genossen werden sich den Kompromiss vor ihrem Parteitag in vier Wochen gut ansehen. Immerhin hat Vizekanzler Olaf Scholz zugestimmt, einer der Kandidaten für den Parteivorsitz. Scheitert Scholz, scheitert mutmaßlich auch die Koalition. Und damit die Grundrente, selbst in der abgespeckten Version.

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