Kommunen in Baden-Württemberg:Gemeinden als Waffenhändler

Nach dem Amoklauf von Winnenden gaben viele Bürger ihre Gewehre ab - einige Kommunen in Baden-Württemberg verkauften sie weiter.

Bernd Dörries

Eigentlich hatte Harald Rilk gedacht, die Sommermonate seien ein ganz guter Zeitpunkt für eine Operation, weil da nicht so viel Arbeit anfällt im Rathaus. Vor acht Wochen ließ sich der Erste Bürgermeister von Crailsheim eine neue Hüfte einsetzen und wollte frühestens im September wieder zur Arbeit gehen.

Kommunen in Baden-Württemberg: Mit gutem Beispiel voran ging der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl. Er ließ öffentlich aus ganz Baden-Württemberg eingesammelte Waffen zerstören.

Mit gutem Beispiel voran ging der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl. Er ließ öffentlich aus ganz Baden-Württemberg eingesammelte Waffen zerstören.

(Foto: Foto: dpa)

Es wurde dann kein ruhiger Sommer, sondern einer der schlimmsten in der Geschichte der Stadt: Der Oberbürgermeister trat zurück, der Leiter des Ordnungsamtes erschoss sich sogar. Rilk humpelt nun seit einigen Tagen wieder in sein Büro und versucht zu erklären, wie es so weit kommen konnte. "Es war menschliches Versagen", sagt Rilk.

Am 16. Juni war ein Dieb ins Rathaus der Stadt mit 32000 Einwohnern im Nordosten Baden-Württembergs eingestiegen, hatte Schubladen aufgehebelt und dort die Schlüssel gefunden für den Tresorraum. Dort lagen neben etwas Geld auch eine ganze Reihe Waffen, Pistolen und Gewehre, 15 davon nahm der Einbrecher mit. Damit hat alles begonnen in Crailsheim.

Keine Waffen mehr im Haus

Die Waffen gehörten zu den 170 Pistolen und Gewehren, die die Bürger der Stadt nach dem Amoklauf von Winnenden freiwillig zurückgegeben hatten. Weil sie keine Waffen mehr im Haus haben wollten. Weil sie nach dem Amoklauf wollten, dass es überhaupt weniger Waffen gibt in Deutschland.

Durch den Diebstahl kamen sie aber nun wieder in Umlauf, und die Empörung war groß in Crailsheim und darüber hinaus. Sie wurde noch viel größer, als herauskam, dass die Waffen in Crailsheim nicht nur schlampig gelagert wurden. Die Stadt hatte viele Pistolen und Gewehre gar nicht vernichten lassen, wie die Bürger eigentlich dachten. Sie hat sie einfach weiterverkauft. An Händler und Schützenvereine. Der Staat als Waffenhändler. Und so war es nicht nur in Crailsheim.

Nach einer Anfrage des Landtagsabgeordneten Helmut Rüeck (CDU) hörte sich das Innenministerium um, wie viele Städte nach dem Amoklauf von Winnenden noch Waffen verkauften: Sieben Kommunen haben nach Kenntnis des Ministeriums nach dem Amoklauf im März 165 Waffen weitergegeben, seit 2003 wurden etwa 2000 Gewehre und Pistolen verkauft. Manche Städte organisierten sogar kleine Verkaufsshows und Versteigerungen.

Verkauf statt Verschrottung

"Nach dem Amoklauf ist das wie ein Schlag ins Gesicht", sagt Hardy Schober, dessen Tochter in Winnenden starb, und der nun Vorsitzender des Aktionsbündnisses Winnenden ist, einer Vereinigung der Hinterbliebenen, die sich für strengere Waffengesetze starkmacht. "Eigentlich hat die Politik versprochen, dass es schwerer wird, an Waffen zu kommen. In Wahrheit hat sie selbst welche weiterverkauft", sagt Schober.

Eigentlich hatte das Regierungspräsidium Stuttgart bereits am 30. März schriftlich darum gebeten, dass die Städte keine Waffen mehr verkaufen sollten, alle anderen Aufsichtsbehörden folgten. Es war eine Bitte, die rechtlich keine bindende Wirkung hat. Aber in der streng hierarchischen Welt der Behörden und Beamten schlägt man dem Regierungspräsidenten eine solche Bitte eigentlich nicht ab. "Wir sind keine Waffenhändler", sagte der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl.

Crailsheim liegt am nördlichen Rand Baden-Württembergs, und dort bekam man von den neuen Zeiten offenbar wenig mit. In Crailsheim wurden nach dem Amoklauf von Winnenden fünf Luftgewehre weitergegeben und eine Pistole. "Wir haben früher so immer unsere Schützenvereine unterstützt", sagt Rilk. Die kamen billig an Waffen, die der Etat sonst nicht hergegeben hätte. Rilk war während des Diebstahls in Crailsheim nicht im Haus, die Waffen lagen nie in seinem Zuständigkeitsbereich. Dennoch muss er nun die ganze Sache rechtfertigen.

Einige Wochen nach Winnenden hatte die Stadt Crailsheim ein Schreiben verschickt an alle Waffenbesitzer, in dem sie fragte, ob denn alle Pistolen und Gewehre noch gebraucht würden. Viele wurden nicht abgegeben, sie wanderten in den Tresor des Rathauses, gesichert mit einer 1,2 Tonnen schweren Tür und vierfachen Stahlwänden. Er wurde so massiv gebaut, um nach dem Krieg die Lebensmittelmarken aufzubewahren. Doch für die Diebe war er kein wirkliches Hindernis. In einer Schublade fanden sie die Schlüssel und öffneten die Tür. Das Zahlenschloss hatte ein Mitarbeiter entgegen den Vorschriften vergessen einzustellen.

"Ich war völlig fassungslos"

Der für die Waffen zuständige Chef des Ordnungsamtes wurde auf den Bauhof versetzt. Als dann noch die Waffenverkäufe bekannt wurden, die der 60-Jährige lange geleugnet hatte, brachte er sich um. Er war Mitglied im Schützenverein und erschoss sich mit seiner eigenen Waffe. Auch der Oberbürgermeister trat zurück, aus gesundheitlichen Gründen, wie er sagte. Nun sitzt Harald Rilk neben seinen Krücken im Rathaus und sagt, das Rathaus "war wie gelähmt" wegen der Ereignisse. Und er, der mit seiner Hüfte noch herumhumpelt, muss die Dinge nun wieder zum Laufen bringen. Künftig sollen nur noch drei Leute im Rathaus den Schlüssel zum Tresor bekommen, die dann die volle Verantwortung tragen, dass nichts mehr abhandenkommt. "So etwas darf sich nicht wiederholen", sagt Rilk. Den Täter von damals hat die Polizei mittlerweile gefasst, und auch die Waffen. Nur eine, die weiterverkauft wurde, fehlt noch.

Auch Christof Bolay hat vor einigen Tagen versucht, seine Waffen wiederzubekommen. Aber da waren sie schon in Einzelteile zerlegt. Bolay, 40, ist Oberbürgermeister von Ostfildern in der Nähe von Stuttgart und gibt sich alle Mühe, angemessen zerknirscht zu sein. "Ich war völlig fassungslos", sagt er. Am 13.Mai hatte er einen Brief an alle Bürger verschickt. "Jeder Einzelne ist aufgefordert, alles in seinem Verantwortungsbereich Mögliche zu tun, dass es nicht zu solchen Amokläufen kommt", schrieb Bolay. Die Bürger reagierten und lieferten 130 Waffen ab - recht viel für eine Gemeinde von 35.000 Einwohnern.

Bolay sprach von einem großen Erfolg. Ein paar Amtsstuben weiter verkauften derweil seine Mitarbeiter Dutzende Waffen weiter, die die Bürger eigentlich aus dem Verkehr gezogen haben wollten: 44 Lang- und Kurzwaffen wurden an einen Waffenhändler abgegeben, der sie wohl vor allem als Ersatzteillager ansah und sie sofort auseinandernahm. 500 Euro zahlte er der Stadt. "Ich verstehe, dass die Hinterbliebenen des Amoklaufes und viele Bürger sich vor den Kopf gestoßen fühlen", sagt Bolay. Künftig sollen alle Waffen sofort vom Kampfmittelbeseitigungsdienst vernichtet werden.

Gegen die zuständigen Mitarbeiter läuft nun ein Disziplinarverfahren. Ob sie wegen der Verkäufe mit Konsequenzen rechnen müssen, ist aber eine andere Frage. "Ihr Verhalten war vor allem politisch und moralisch fragwürdig." Rechtlich war es möglicherweise in Ordnung. Denn die Regierungspräsidien hatten ja nur darum "gebeten", die Verkäufe zu unterlassen. Nun will das Innenministerium die Vorschriften ändern. "Ich hoffe, dass es die Politik jetzt ernster meint", sagt der trauernde Vater Hardy Schober aus Winnenden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: