Kommunalwahlen in der Türkei:Seifenoper und Tragödie

Turkish PM Erdogan attends election campaign rally in Istanbul

Nur noch im Falsett: Bei den vielen Wahlkampfauftritten (hier am Samstag in Istanbul) hat der türkische Premier Erdoğan seine Stimme verloren.

(Foto: dpa)

Angebliche Pläne für einen Angriff auf Syrien, Youtube gesperrt, Korruptionsvorwürfe gegen Premier Erdoğan: Mit den türkischen Kommunalwahlen endet an diesem Sonntag ein Wahlkampf, den gegenseitiges Misstrauen bestimmte. Selbst im konservativen Anatolien wenden sich viele von der bisher beliebten Partei Erdoğans ab.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Wenn die Unternehmerin Şafak Çivici durch die anatolische Millionenstadt Kayseri fährt, wo sich die Straßen am Abend auffällig früh leeren, dann denkt sie an Stuttgart. "Konservativ und fleißig", so hat die 49-Jährige den Ort ihrer Kindheit in Erinnerung. "Genauso ist Kayseri." Als sie vor 22 Jahren nach Kayseri zog, war es "verpönt, wenn man nicht zu Hause aß, sondern im Restaurant". Da fragten die Leute: Kann die Frau nicht kochen? Damals hatte Kayseri so viele Einwohner wie Stuttgart heute, rund 600.000.

Inzwischen sind es 1,3 Millionen. Kayseri erlebte einen märchenhaften Aufschwung, viele Handwerker wurden zu Exportunternehmern mit Milliardenumsätzen. Auch Çivicis Möbelfirma beliefert heute Hotels in Saudi-Arabien und Messen in Italien. "Anatolische Tiger" hat man die Aufsteiger genannt, "islamische Calvinisten". Gewählt haben sie stets Recep Tayyip Erdoğan. Die strebsamen Kayserianer und Erdoğans islamisch-konservative, wirtschaftsliberale AKP - das passte zusammen wie Hand und Handschuh.

Inzwischen gibt es in der Stadt am Fuß eines ganzjährig schneebedeckten, fast 4000 Meter hohen erloschenen Vulkans zwar mehr Restaurants, aber 99 Prozent von ihnen servieren keinen Alkohol. Damit kann Şafak Çivici leben. Was der Türkin zu schaffen macht, ist ein neues Phänomen. "Man muss jetzt ganz vorsichtig sein, was man sagt", so Çivici. Nachbarn blicken sich misstrauisch an, ein tiefer Riss geht durch die Stadt, mitten durchs fromme Volk. Und der Premier beschimpft fast täglich seine treuesten Wähler. Warum nur? "Vielleicht ist das Erfolgstrunkenheit?", rätselt Frau Çivici. "Mir tut die AKP schon fast leid", sagt sie, "die haben doch auch gute Sachen gemacht."

Der Wahlkampf? Eine Mischung aus Soap-Opera und Tragödie

Viele Leute in der Stadt verstehen Erdoğan nicht mehr, dem sie eine ganze Dekade so treu und dankbar waren - seit er gegen einen anderen Mann wütet, den sie in Kayseri nicht weniger verehrt haben: den charismatischen Prediger Fethullah Gülen. Dessen Unterstützer sind für Erdoğan nun "eine Bande", Terroristen gar.

Am Sonntag wird in allen türkischen Kommunen gewählt, es sind die ersten Wahlen seit dem Aufstand der Gezi-Jugend vor einem Jahr, seit Twitter- und Youtube-Verbot. Zum Ende des Wahlkampfs haben die Türken erlebt, wie sich der Wettbewerb der Parteien in eine Mischung aus Soap-Opera und Tragödie verwandelte. Sie lauschten dem angeblichen Liebesgeflüster zwischen einem Erdoğan-Sohn und einer Schweizerin. Sie lasen, dass Gülen-Anhänger "Silikon-Masken" benutzen wollten, um Schauspieler (in der Gestalt von Erdoğan) in flagranti zu filmen.

"Ein großer Spionagefall"

Unmittelbar vor dem Wahltag ist jetzt die brisanteste Tonaufnahme aufgetaucht. Darin sagt eine Stimme, die Geheimdienstchef Hakan Fidan gehören soll, zu Außenminister Ahmet Davutoğlu, wie die Türkei einen Militärschlag gegen Syrien provozieren könnte. Seit dieser Veröffentlichung ist Youtube gesperrt.

Dass es die fragliche Versammlung gab, ist bestätigt. Das Außenministerium aber nennt die Aufnahmen "teilweise verfälscht". Staatspräsident Abdullah Gül spricht von einem "großen Spionagefall". Die Täter würden hart bestraft, drohte am Donnerstag Außenminister Ahmet Davutoğlu. "Das ist eine Kriegserklärung an die Türkische Republik", zitierte ihn die Nachrichtenagentur Anadolu. Der Prediger Gülen, der in Pennsylvania lebt, hat auch diesmal jede Beteiligung bestritten.

Die Säuberung des Staatsapparats erinnert an die McCarthy-Ära

Der Weg zu Mahmut Mat, dem Rektor der Melikşah-Universität, führt über einen roten Teppich. Teurer Naturstein, viel Glas - die private Universität hat großzügige Spender. Darunter die Boydak-Brüder, Industrielle, deren Vater sich das Lesen noch selbst beibrachte. Den Boydaks gehört der größte Konzern am Ort und sie sind treue Gülen-Anhänger. Die junge Universität arbeitet mit dem europäischen Erasmus-Programm zusammen.

Der Rektor sagt: "Wir sind stolz auf unsere ersten Absolventen in diesem Jahr." Nur wirkt der Mann dabei gar nicht heiter. Denn was soll nun werden aus der Uni und 16 weiteren Hochschulen - alle finanziert von Gülen-Anhängern? Rektor Mat ringt mit den Worten, dann sagt er, und es soll wohl tapfer klingen: "Wir tun unser Bestes, um nicht von der politischen Debatte beeinflusst zu werden."

Wie beim Lions Club

Republikgründer Kemal Atatürk hatte nichts übrig für die Religion und verbot die traditionellen sunnitischen Orden, die Tarikat. Im Untergrund lebten sie weiter. Heute gibt es mehrere Laien-Gemeinden mit Wurzeln in den alten Orden. Am erfolgreichsten sind Gülens Leute. Sie sammeln Spenden, verbinden Religion und Geschäft.

"Das ist wie beim Lions Club", erzählt ein Unternehmer. "Da sitzt man zusammen und redet übers Geschäft." Die Netzwerker unterstützen Gülens Schulen in Pakistan, bei Reisen nach Afrika oder Amerika werden gemeinsam Wirtschaftskontakte geknüpft. Der Journalist Mustafa Çengiz aus Kayseri sagt: "Sowohl Gülen als auch Erdoğan haben sich wohl nie erträumt, dass sie einmal so viel Geld und so viele Menschen kontrollieren würden."

Ist das Gülen-Imperium also zu mächtig geworden für Erdoğan? Nachdem am 17. Dezember 2013 Korruptionsermittler in Istanbul Ministersöhne und regierungsnahe Geschäftsleute festnahmen, begann eine beispiellose Säuberung des Staatsapparats: Tausende Beamte wurden versetzt, Staatsanwälte, Richter, Polizisten, die unter Verdacht stehen, Gülen-Anhänger zu sein. Ein einflussreicher Firmenchef aus Kayseri vergleicht das mit der "McCarthy-Ära", der Kommunistenjagd in den USA in den Fünfzigerjahren.

Viele Gülen-Anhänger werden die AKP nicht mehr wählen

Die Vorwürfe gegen Erdoğan sind dennoch nicht aus der Welt. Seit jenem 17. Dezember erfahren die Türken fast täglich Neues über angebliche Verstrickungen des Premiers in dunkle Millionentransfers. Die Twitter-Sperre hat die Verbreitung entsprechender Telefonmitschnitte nicht gestoppt. Auch den Youtube-Blackout umgehen viele Türken mit technischen Tricks. "Meine Tante ist 70 Jahre alt, sie ist auf Facebook", sagt Çivici, "sie will sich den Mund nicht verbieten lassen."

Wer wird am Sonntag von diesem Schattenboxen profitieren? Im konservativen Kayseri rechnet sich der Kandidat der nationalistischen MHP, Mustafa Özsoy, 45, ein Ex-Polizist, gute Chancen gegen den langjährigen AKP-Bürgermeister aus. Özsoy, mit lila Seidenkrawatte und Einstecktuch, sagt: "Seit fünf Monaten laufe ich in der Stadt herum und schaue den Menschen in die Augen, sie haben Angst." Was sie fürchten? Steuerprüfer in Firmen mit Gülen-Verbindungen, zum Beispiel.

Erdoğans Auftritt in Kayseri ist abgesagt

Viele Gülen-Anhänger werden die AKP wohl nicht mehr wählen. Aber niemand weiß, wie viele Leute zur Gemeinde gehören. Angeblich wird in diesen frommen Kreisen empfohlen, stets für die Partei zu stimmen, die der AKP am ehesten gefährlich werden kann - ob links oder rechts ist egal. Davon könnte in Istanbul, der größten Stadt des Landes, die republikanische Oppositionspartei CHP profitieren.

Erdoğan lässt ganzseitige Zeitungsanzeigen drucken, in denen steht: "Verräter - wir lassen euch nicht durch." Jeden Tag tritt er in mehreren Städten auf. Dabei hat er seine Stimme ruiniert. Am Donnerstag in Van sprach der Premier nur noch im Falsett. In Kayseri wollte er am Freitag seine Kampagne beschließen. Der Auftritt wurde abgesagt. Şafak Çivici wusste schon vorher: "Meine Arbeiter gehen da nicht hin."

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