Süddeutsche Zeitung

Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen:Kampf um die rote Bastion

Seit 74 Jahren regiert die SPD in Dortmund. Das will ein CDU-Kandidat nun ändern und könnte damit ein bundespolitisches Erdbeben auslösen.

Von Christian Wernicke, Dortmund

Manchmal kommt er ans Ziel. "Ran an die Menschen" will er, "an die Dortmunder, an die Seele der Stadt." Also los, klinkenputzen in der Mengeder Heide. In dieser Eigenheimsiedlung im Dortmunder Nordwesten sind die Hecken akkurat geschnitten, die Wege gefegt. Im Vorgarten gedeihen Hortensien, und bei Wahlen erntet die CDU stets die meisten Stimmen. Der Kandidat klingelt, tritt zwei Schritte zurück, wahrt Mindestabstand. Da geht die Tür auf. "Guten Tag", sagt der Besucher und deutet einen Diener an, "Andreas Hollstein ist mein Name, ich kandidiere als Oberbürgermeister." Kurzes Staunen, dann lächelt die Hausherrin den Fremden an: "Ach, Sie sind das!"

Hollstein genießt sein Glück: "Endlich ein Gespräch, das gelingt selten in Zeiten von Corona!" Der 57-jährige Mann im blauen Sommerjackett strahlt, als die Frau Mitte 40 von ihm wissen will, wie in aller Welt er nur auf die Idee gekommen sei, aus dem kleinen Städtchen Altena im Sauerland aufzubrechen "und nun ausgerechnet hier bei uns zu kandidieren?" In Dortmund, der Ruhrgebiets-Metropole? Hollstein sagt, was er immer sagt: Dass die Dortmunder Christdemokraten ihn vorigen November eben gefragt hätten, und dass er - nach kurzer Rücksprache mit seiner Ehefrau - dann zugesagt habe: "Denn ich brenne für diese Stadt!" Aber, so setzt die Frau nach, woher er denn den Mut nehme "für die CDU anzutreten, in dieser SPD-Hochburg?" Hollsteins Antwort kreist um Begriffe wie "Herausforderung," "Chance" und "Zuversicht", ehe er plötzlich seine Stimme senkt. "Die Stichwahl kommt ja auch noch", raunt der Aspirant und grinst, "da lohnt es sich ja." Er reicht einen Flyer, "schönen Tag noch!"

So also deutet Andreas Hollstein die Gefechtslage. Und setzt auf Sieg. Nicht sofort, nicht schon an diesem Sonntag, wenn 14 Millionen Bürger in Nordrhein-Westfalen zur Kommunalwahl aufgerufen sind. Zwar werden am 13. September die meisten der knapp 20 000 Bezirksvertreter, Ratsfrauen und Kreistagsabgeordnete gekürt. Aber die wichtigsten Ämter - die Posten der 31 Landräte und der 23 Oberbürgermeister in NRW - werden wohl meist erst zwei Wochen später vergeben, bei der Stichwahl am 27. September. Dann, im Duell der beiden Bestplatzierten aus dem ersten Wahlgang, rechnet sich Hollstein seine Chance aus, das bisher Unvorstellbare zu vollbringen: die Allmacht der Dortmunder SPD zu brechen.

Seit 74 Jahren regieren hier die Roten. Der legendäre Herbert Wehner prägte den Satz, diese um Zechen, Stahlhütten und Brauereien gebaute Malocherstadt sei "die Herzkammer der Sozialdemokratie". Seit 20 Jahren muss die waidwunde SPD im Ruhrgebiet erleben, wie ihre Herrschaft im Revier zerbricht. Dortmund jedoch hielt stand, blieb Bastion, ist Mythos. Fiele nun auch Dortmund, es wäre ein politisches Erdbeben, zu spüren auch in Berlin. Und in Düsseldorf, wo Regierungschef Armin Laschet (CDU) dringend Erfolge braucht, um seine Ansprüche auf Parteiführung und Kanzlerkandidatur zu untermauern.

2017 attackierte ihn ein Mann mit einem Messer - so wurde Hollstein bundesweit bekannt

Hollstein, der CDU-Mann vor Ort, kümmert solch hohe Politik wenig. Er sei, so sagt er, "ein untypischer Politiker". Boden-ständig, pragmatisch, ideologiefrei: "Ein Bürgersteig ist nicht rot, schwarz oder grün - sondern gut oder schlecht gemacht." Sein Wahlkampfteam - im Kern sieben junge Leute - agiert unabhängig vom lokalen Parteiapparat, dem die Dortmunder eh wenig zutrauen: Nicht mal jeder siebte Bürger glaubt, die CDU könne die Probleme der Stadt lösen.

Hollsteins Programm verspricht keine spektakulären Großprojekte. Sondern eher Kleinteiliges: 2500 neue Wohnungen will er jährlich bauen lassen (500 mehr als die SPD), bei der Digitalisierung der Schulen und dem Ausbau der Radwege übernimmt er Pläne, die die Stadt längst beschlossen hat: "Aber ich gebe Ihnen mein Wort: Bei mir wird das - anders als bisher - endlich auch mal umgesetzt."

Nur keine Show. Neulich hat Hollstein sogar zugegeben, dass er kein Fan von Borussia Dortmund ist. Also kein Schwarz-Gelber. Stattdessen setzt er auf Schwarz-Grün. In seiner Heimatstadt Altena, 36-mal kleiner als Dortmund und 28,5 Kilometer entfernt, hat er die letzten sechs seiner 21 Amtsjahre mit den Grünen regiert. Schwarz-Grün wäre auch seine Vorliebe für Dortmund, "das habe ich im Gepäck".

Aber da ist auch noch die andere Geschichte, die er mitschleppt aus Altena - das Attentat vom 27. November 2017: In einem Imbiss setzte ihm damals ein Mann eine Messerklinge an die Kehle, Hollstein wähnte sich dem Tode nahe. Der Angreifer, arbeitslos und alkoholisiert, pöbelte, die Stadt habe ihm Wasser und Strom abgedreht - und gleichzeitig zu viele Flüchtlinge geholt. Gerettet haben Hollstein dann die Inhaber des Döner-Shops, zwei türkischstämmige Mitbürger. Tatsächlich hatte Hollstein seit 2015 mehr Geflüchtete in die Stadt geholt, als das Land Nordrhein-Westfalen ihm zugewiesen hatte: Altena, eine vom industriellen Niedergang geplagte Stadt, hatte ja genügend leer stehende Wohnungen.

Er erlitt drei Hörsturze, erhielt sechs Todesdrohungen

Der Mordversuch machte Hollstein bundesweit bekannt. Am Tag nach dem Anschlag erklärte er, der Täter sei "nur ein Werkzeug von jenen Menschen, die Hass und Hetze verbreiten". Im Internet wurde er beschimpft, geschmäht, verdammt. Er erlitt drei Hörsturze, erhielt erst im Frühsommer vorigen Jahres erneut sechs Todesdrohungen, fünf davon nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Als Hollstein im Herbst 2019 ankündigte, er mache nicht mehr weiter in Altena, mutmaßten viele, da sei wohl einer zermürbt worden.

Hollstein bestreitet das vehement. "Ich wollte einfach noch was Neues anfangen mit Mitte 50", beteuert er, "mit dem Anschlag hatte das nichts zu tun." Ja, er nehme "Angsträume jetzt achtsamer wahr". Aber: "Im Umgang mit Menschen bin ich völlig unbefangen." Dortmund als zweites Leben, als persönliche Renaissance auf großer Bühne? Er winkt ab: "Quatsch!"

Wenn ihm etwas zusetze, so Hollstein, dann das Virus. Das Verbot von Großveranstaltungen trifft zwar alle Parteien. "Aber mir, der von außen kommt, tut Corona mehr weh", sagt Hollstein. Er hat seine digitale Kampagne aufgerüstet, zieht von Haustür zu Haustür wie in Mengede, steht zäh in Fußgängerzonen am Infostand: "Aber mit Maske lässt sich ein Gespräch halt schwerer anbahnen." 36 Prozent aller Wähler kennen inzwischen Thomas Westphal, den vielplakatierten SPD-Kandidaten. Immerhin 28 Prozent wissen, dass Daniela Schneckenburger, die Schul- und Jugenddezernentin, für die Grünen antritt. Hollstein und die CDU hingegen bringen nur 17 Prozent zusammen.

Hollstein kennt die Umfragen. Er weiß, es wird knapp. Im ersten Wahlgang dürfte SPD-Mann Westphal, einst linkssozialistischer Juso-Bundeschef und mittlerweile oberster Wirtschaftsförderer der Stadt, mit über einem Drittel der Stimmen vorn liegen. Dortmund erobern kann Hollstein nur, wenn er am Sonntag eine Art Halbfinale gegen die grüne OB-Kandidatin Daniela Schneckenburger übersteht: Wer da Zwei-ter wird, zieht in die Stichwahl am 27. September ein. Und könnte dann, als gemeinsamer Kandidat von Schwarzen und Grünen, das Finale um die rote Herzkammer gewinnen.

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SZ vom 11.09.2020/hij
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