Kommentar:Wie Demokratie wächst

Wenn die Besetzung des Irak noch einen Sinn ergeben soll, dann ist jetzt der Zeitpunkt für den Roosevelt-Test gekommen.

Von Stefan Kornelius

Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt definierte im Jahr des amerikanischen Kriegseintritts 1941 die vier zentralen Eigenschaften, die über die hoffnungsfrohe Zukunft eines Volkes entscheiden.

Bei Roosevelts Four Freedoms, gedacht als Fundament für den bevorstehenden Kampf gegen den Faschismus, handelt es sich um die erstrebenswerten Zustände der Freiheit, um ein Leben ohne die schlimmsten Fesseln der Unfreiheit: die Fesseln der geistigen Kontrolle, religiösen Unterdrückung, der Angst und des Hungers.

Frei sind also Völker, in denen die Menschen ihre Meinung ohne Gefahr äußern können. Frei sind Völker, die ihre Religion ungehindert ausüben können. Frei sind Völker, die keine Angst vor Unterdrückung und Gewalt haben müssen. Und frei sind Völker, die keinen Hunger leiden müssen, in denen also Wohlstand und ökonomische Sicherheit für jeden Einzelnen verwirklicht werden können.

Die Iraker könnten sich nach diesem Test in der kommenden Woche nicht wirklich als freies Volk fühlen. Sie äußern ihre Meinung und werden bald wählen, sie üben ihre Religion aus, sie hungern nicht und sie können sich befreit fühlen von der diktatorischen Unterdrückung.

Aber: Die ökonomische Freiheit fehlt, weil es für zu viele keine Arbeit und keine Perspektive gibt. Und die Sicherheit fehlt, weshalb die Menschen in Angst leben. Es ist der mörderische Terror, der das Land einschnürt. Die Gewalt stammt von Menschen, die dem Irak seine Freiheiten nehmen wollen. Der Staat in seinem Kern ist zwar nicht mehr terroristisch, aber er sorgt auch nicht für Sicherheit.

Die Realität ist also erheblich komplizierter als die Rooseveltsche Theorie. Anders als damals 1941 im Falle Europas stellt sich heute im Irak die Frage: Hat Roosevelt überhaupt Recht? Ist es wirklich so simpel mit den vier Freiheiten? Wenn die vier Grundbedürfnisse jedes Menschen so einfach zu definieren sind, warum sehen so wenige im Irak ihre Chance? Warum so viel Hass und Gewalt statt Vertrauen und Zuversicht?

Zu viel Zwang, zu viel Eile

Roosevelt hat ja nicht nur vier Freiheiten als Grundlage für eine hoffnungsfrohe Zukunft definiert, er hat nebenbei die zentralen Elemente für das amerikanische, französische, englische - ja: inzwischen westlich genannte - Modell der politischen Liberalität geliefert.

Vier Zutaten für die Demokratie also, dieses vielleicht komplizierteste Gericht aus dem Kochbuch der Macht- und Herrschaftsmodelle. Und war es nicht diese Demokratie, die am Ende herhalten musste, als der Irak-Krieg gerechtfertigt wurde?

Als Massenvernichtungswaffen und die Unterdrückung des Volkes als Begründung erschöpft waren, da blieb der große, fast schon missionarische Auftrag: Demokratie für den Irak, Demokratie für den Nahen Osten, die gesamte arabische Welt gar, weil eben nur die Demokratisierung eine verlässliche Strategie sei im Kampf gegen die Feinde der Freiheit.

Wie Demokratie wächst

Die Idee ist so verlockend wie einfach gewesen - und deshalb war sie auch so wenig realistisch. Demokratie lässt sich nicht erzwingen, schon gar nicht binnen Jahresfrist.

Demokratie entsteht nicht unter vorgehaltenen Waffen, sie kann am Ende nur aus einer Gesellschaft heraus erwachsen, auch wenn von außen geholfen werden kann. Wenn sich am Montag die Nato zu einer hoch symbolischen und inhaltsschwachen Tagung trifft - in Istanbul, der geografischen Naht zwischen dem Westen und der islamischen Welt also -, dann werden die Staatsführer der westlichen Demokratien und vor allem der amerikanische Präsident George Bush die vorläufige Niederlage ihrer Demokratisierungs-Idee eingestehen müssen.

Der Westen als Vorbild, die Demokratie als Ideal funktioniert nicht - nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht in jenem Staat Irak, der als Nukleus herhalten sollte für eine Ausbreitung der Demokratisierung, basierend auf Roosevelts vier Freiheiten. Schlimmer noch: Bush hat einer Modernisierung und möglichen Demokratisierung der arabischen Welt durch den Irak-Krieg vielleicht mehr geschadet als geholfen.

Damit ist aber noch lange kein Urteil gefällt über die Kraft der westlichen Demokratien, ihr Idealbild strahlen zu lassen und zur Demokratisierung in der Welt beizutragen - selbst eines fernen Tages im Irak. Freiheit ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, der Freiheitstrieb schlummert in jedem, und deshalb ist es falsch, das Demokratisierungs-Projekt abzutun, denn Freiheit wird es am Ende nur mit Demokratie geben.

Freiheit und Wohlstand

Viele Beispiele gibt es aus den vergangenen Jahrzehnten über gelungene Demokratisierungen. Die Deutschen müssen da nicht weit schauen. Und auch nachdem die große Freiheitswelle durch die ehemals kommunistischen Staaten geschwappt war, hat die Demokratie ihre Kraft und Attraktion nicht verloren.

Die Demokratie-Indizes belegen dies: Die Bertelsmann-Stiftung stellt in einer umfangreichen Studie zum globalen Demokratisierungsprozess fest, dass allein in den vergangenen fünf Jahren sechs Staaten der Übergang zur Demokratie gelungen ist. 31Staaten mit geringer demokratischer Tradition haben das System verbessert und gefestigt.

Überall auf der Welt ist ein Trend zur Demokratie zu messen. Der EU-Kommissar und frühere Gouverneur von Hongkong, Chris Patten, erinnert daran, dass drei Viertel der Muslime in der Welt jenseits von Nordafrika, dem Nahen Osten oder dem arabischen Golf wohnen, mithin also oft in demokratischen Zonen. Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Nationen können eines der besten Beispiele für demokratische Transformation in einem islamischen Land am Bosporus selbst begutachten.

Bekannt sind auch die Zutaten für eine gelungene Demokratisierung. Bekannt ist, dass mehr als alles andere ökonomische Sicherheit Demokratie ermöglicht. Wenn die existenziellen Probleme des Lebens gelöst sind, dann wächst der Wunsch nach Individualität und Selbstverwirklichung und damit automatisch der Wunsch nach Demokratie.

Und bekannt ist auch, dass Demokratie bekämpft wird, wenn sie als Widerspruch gesehen wird zu traditionellen Werten und religiösen Strukturen. Hier liegt eine der wichtigsten Quellen für den Kampf mit dem islamischen Fundamentalismus, für den Demokratie eben auch mit einem anderen Frauenbild, mit zu viel Liberalität und Offenheit verbunden ist.

Im Irak wirkt all dies weit entrückt, fern aller Realität. Im Irak hat Roosevelt zur Zeit keine Chance, weil das Chaos der Gegenwart vielleicht genauso bedrückend ist wie die Unfreiheit unter Saddam Hussein. Aber ein Unterschied bleibt: Auch wenn der Demokratisierungswunsch des Westens naiv und gehetzt war, auch wenn die wahren Motive der USA viel weniger idealistisch gewesen sein mögen, so birgt Demokratie auch immer Hoffnung. Die wenigstens bleibt noch.

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