Kommentar:Von der Tortur zur Akupunktur

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Die SPD will ihr rotes Wunder erleben: Was der Parteitag von Gerhard Schröder erwartet.

Von Heribert Prantl

Von Gerhard Schröder wird heute auf dem Parteitag in Bochum ungefähr dieses erwartet: Er soll mit seiner Eröffnungsrede den Saal mitreißen wie ein Cicero. Er soll die Seele der Delegierten spüren und streicheln wie ein Sigmund Freud.

Und er soll die SPD so motivieren wie einst Napoleon seine Soldaten am Fuß der Pyramiden. Er soll es aber vermeiden, dem Parteitag wie ein Moses die Tafeln der Agenda 2010 vor die Füße zu werfen. Kurz gesagt: Schröder soll ein Wunder bewirken; die Partei will ihr rotes Wunder erleben.

Der Bundeskanzler und Parteichef soll die SPD von Depression und Sinnverlust heilen; er soll ihr den Glauben an ihn und an sich selbst wiedergeben. Er soll vor dem Parteitag stehen, als sei der Lafontaine in ihn gefahren.

Jeder Parteitag ist eine psychotherapeutische Veranstaltung. Aber so schwierig wie der, der heute in Bochum beginnt, ist selten einer gewesen. Zwar ist der Fall der SPD-Umfragewerte ins Bodenlose kurz vor dem Parteitag gestoppt worden - wenn auch auf beschämend niedrigem Niveau.

Noch nicht gestoppt ist aber die totale Verunsicherung der Sozialdemokratie, die sich in den zunehmenden Parteiaustritten widerspiegelt.

Seit Schröders Agenda 2010 weiß die Sozialdemokratie nicht mehr, wer sie ist und warum sie so heißt; sie ist verwundert, verwundet und verwirrt; viele an der Basis haben keine Ahnung und keine Lust, wie sie bei den Wahlkämpfen die Politik ihrer Regierung erklären sollen.

Das, so erwartet man heute von Schröder, soll er nun erklären. Wenn ihm das bei seiner eigenen Partei nicht gelingt, wird es ihm beim Wahlvolk erst recht nicht gelingen. Die Mahnung von Bundespräsident Johannes Rau an die Parteien, die Reformen besser zu erklären, kommt schon fast zu spät:

Es ist so, dass die Menschen vor lauter Reformen die Reform nicht mehr sehen. Schröder selbst macht seit geraumer Zeit den Eindruck, er habe, überzeugt von seinen Reformen, seine innere Ruhe gefunden: Er weiß, was er will. Er wird aber als Bundeskanzler und auch als Parteichef scheitern, wenn es ihm nicht gelingt, diese innere Ruhe auf die SPD zu übertragen.

Es geht um Sinnstiftung. Die Sozialdemokratische Partei wartet auf ein wenigstens nachträgliches Godesberg, auf eine Programmatik, auf eine Wegweisung, welche die aktuellen Reformen in ein sozialdemokratisches Gesamtkonzept einbettet.

Üblicherweise hat die SPD es ja nicht so mit Bibelversen; aber alles, was man derzeit aus dem Mittel- und Unterbau der Partei hört, läuft darauf hinaus, die Sprüche Salomons (29,18) auf die Partei anzuwenden: Eine SPD ohne Vision geht zugrunde.

Diese Partei sieht derzeit so aus, als hätte Schröder sie in ein riesiges Nadelkissen geworfen. Beim SPD-Parteitag in Bochum steht die Parteiführung vor der Aufgabe, diese Tortur nun zu einer Akupunktur zu erklären - einem Verfahren, das bekanntlich durch das Einstechen von Nadeln in den Körper Schmerzlinderung und Heilung zu erreichen sucht. Die Partei fragt nicht nach einem Heilsplan, sehr wohl aber nach einem Heilplan.

© SZ vom 17.11.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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