Kommentar:Politik als Krawallritual

Aus der Debatte über Massenarbeitslosigkeit darf kein Gekeife über Worte werden.

Von Kurt Kister

Aus der Debatte um die Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering ist ein Streit geworden, der zunehmend absurde Züge annimmt. Dafür gibt es zwei Hauptursachen.

Die eine ist die Wortwahl Münteferings, der eine bestimmte Sorte von Firmenaufkäufern mit Heuschrecken verglichen hat. Der andere Grund aber liegt in der Tatsache, dass die politische Auseinandersetzung in diesem Land immer stärker nach dem Prinzip des eskalierenden Geschwätzes geführt wird. Wer auf einen groben Klotz nicht mindestens einen doppelt so groben Keil setzt, findet wenig Gehör.

Daran sind die Medien, vor allem das Fernsehen, schuld. Zum anderen aber unterwerfen sich Politiker, Spitzenmanager und Gewerkschafter lustvoll dem Krawallritual, weil sie Nachdenklichkeit für Unsicherheit und aggressives Gekeife für entschlossene Argumentation halten.

Müntefering hatte zwei Dinge im Sinn. Das eine war der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Das andere, viel Wichtigere: Müntefering wird immer wieder mit der Angst von Arbeitnehmern konfrontiert, die keine Arbeit mehr haben oder um ihre Stelle fürchten.

Wo liegt das wahre Problem?

Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass Manager aus der eigenen Firma oder von außen geholte Sanierer als Erstes die Kosten senken. Die Ausgaben für das Personal sind ein großer, wenn nicht der größte Teil des fixen Etats. Die Kosten werden also geringer, wenn man Leute entlässt - und genau das geschieht in vielen Firmen.

Die Motive dafür sind unterschiedlich: Die einen müssen nach einer Insolvenz restrukturieren, die anderen wollen einer Insolvenz vorbeugen, die Dritten zielen ohne wirtschaftliche Schieflage auf höhere Renditen. Umsetzungen, Entlassungen, Arbeitslosigkeit gehören zum Alltag. Viele haben es selbst erlitten, andere haben es im Bekanntenkreis miterlebt, alle lesen und sehen es täglich in den Medien.

Müntefering wäre ein schlechter SPD-Chef, wenn er sich darüber nicht Sorgen machte. Gewiss, man kann es so sehen wie der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle, der die "Plage" der Gewerkschaftsfunktionäre für das wahre Problem hält.

Ähnlich westerwellisch, nur von der anderen Seite, argumentieren die DGB-Fürsten Peters und Bsirske, die hauptsächlich auf die Arbeitgeber einschlagen. Natürlich kann man es auch so machen wie Angela Merkel. Die legt sich lieber gar nicht fest, weil sie nur abwarten will, ob und in welcher Weise die Diskussion dem politischen Gegner schadet.

Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht erst seit dem Regierungsantritt Schröders das größte Übel in Deutschland. Wer von ihr betroffen ist, kann in die Armut abrutschen, physisch wie psychisch krank werden, den Lebensmut verlieren.

Der Einzelne wird sich fast immer als Opfer fühlen, weil kaum einer einsehen kann, warum ausgerechnet er entlassen wird, um die Firma zu retten oder den Eigentümern höhere Gewinne zu sichern.

Dies alles findet in einer gegenüber Jahrzehnten westdeutscher Geschichte völlig veränderten Situation statt: Wir haben seit langem Stagnation, ja Rezession auf dem Binnenmarkt; der Finanzmarkt ist internationalisiert; Technik und politische Entwicklungen ermöglichen die Verschiebung großer Teile des produzierenden Gewerbes sowie einiger Branchen im Dienstleistungssektor ins billigere Ausland.

Die Internationalisierung der Arbeiterklasse war ein Traum von Sozialisten und Sozialdemokraten. Jetzt müssen sie sich dem Albtraum stellen, dass es die Arbeiterklasse so nicht mehr gibt, das Kapital aber keine (nationalen) Grenzen mehr kennt.

Wenn sich die Politik nicht auf protektionistische Irrwege begeben will, sind ihre Einflussmöglichkeiten eher gering. Ein Beispiel: Um die sozialen Folgen der Globalisierung abzufedern, braucht der Staat Geld, das er nicht mehr hat, auch weil die Abwanderung von Betrieben und die damit verbundenen Entlassungen das Steueraufkommen weiter verringern.

Erwünschtes Verschwinden der Grenzen

Die Möglichkeit von Firmen, ihre Kosten durch Produktionsverlagerungen zu senken, ist eine Folge des allgemein erwünschten Verschwindens nationaler und ökonomischer Grenzen. Höhere Steuern werden die Abwanderung beschleunigen. Senkt man andererseits die Lohnnebenkosten in einer Größenordnung, die abwanderungsbereite Firmen als relevant erachten, kann man unser Renten- und Gesundheitssystem nicht mehr finanzieren. Letzteres zumindest könnte "die" Politik reformieren - aber nicht im hier vorherrschenden Politzyklus, wo jedes Jahr Wahljahr ist.

Müntefering hat die richtige Diskussion mit den falschen Begriffen angestoßen. Ja, es gibt unter den "Kapitalisten" solche, die zerschlagen, nur um Profit zu machen. Die darf man auch benennen, ohne dass über eine mögliche Wiederkehr des RAF-Terrorismus geschwafelt wird.

Wenn Müntefering aber pauschalierend von Heuschrecken redet, sein Krawallgenosse Stiegler auch noch zwischen Heuschrecken und "Nutztieren" unterscheidet, dann ist dies dumm. Es ist dumm, weil es aus der Debatte über unser größtes Problem ein Gekeife über Worte macht.

Es provoziert die anderen Blähredner, die Westerwelles und Henkels. Es reduziert, und das ist das Schlimmste, eine existenzielle Frage auf das Niveau der Talkshows, auf Unterhaltung.

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