Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Manifest der Zerrissenheit

Die Stellungnahme des Nationalen Ethikrates zeigt: Beim Thema Sterbehilfe gibt es keinen Konsens.

Alexander Kissler

Greift die "Desensibilisierung des Gewissens" nun auch im Nationalen Ethikrat um sich? Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, prägte jüngst das böse Wort, um vor einer "schiefen Ebene" zu warnen.

Wenn man den assistierten Suizid und die Tötung auf Verlangen einführte, folge bald die "Pflicht zum Sterben für das Vaterland". Schließlich werde nicht mehr der Todeswunsch, sondern der Lebenswille deklarierungspflichtig sein.

Seit gestern wissen wir: Der Ethikrat macht sich nicht zum Sprachrohr solcher Tendenzen, aber ein leidenschaftliches Bekenntnis wider die aktive Sterbehilfe sieht anders aus.

Mit der Stellungnahme zur Sterbebegleitung schließen die 24 noch von Gerhard Schröder berufenen Ethikräte ihre zweijährige Arbeit ab. Im Juni 2005 präsentierte man als Zwischenresultat einen Forderungskatalog zur Patientenverfügung.

Ganz im Gegensatz zur bioethischen Enquetekommission des Bundestages warb man dafür, die Reichweite der Patientenverfügung nicht auf bestimmte Phasen der Erkrankung zu beschränken.

Ihr neues in Berlin vorgestelltes Werk mit dem Titel "Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende" begreifen die Autoren als "Verdeutlichung der Empfehlungen" zur Patiententenverfügung.

Tonfall und Tendenz aber haben sich geändert.

Vor einem Jahr hieß es knapp und überzeugend: Das Verbot der aktiven Sterbehilfe darf nicht in Frage gestellt werden. Nun wurde aus der prinzipiellen eine bedingte Ablehnung.

"Gegenwärtig" solle die "Tötung auf Verlangen unheilbar Kranker" verboten bleiben. Eine solche Tötung müsse indes keine Bestrafung nach sich ziehen.

Der Ethikrat beruft sich auf "strafrechtliche Literatur", derzufolge "weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass in Fällen praktisch vollständig hilfloser Sterbenswilliger das Verbot der Tötung auf Verlangen seine Berechtigung verliert."

Demzufolge könnte womöglich bald ausdrücklich erlaubt werden, was heute zwar verboten ist, aber straffrei bleiben möge - die Tötung eines leidenden Dritten auf dessen Wunsch hin.

Dies ist ein Manifest der Zerrissenheit. Viele Mitglieder sprechen sich gegen die ärztliche Beihilfe zum Suizid aus.

"Schatten der deutschen Geschichte"

Eine starke Minderheit aber fordert vom Therapeuten, "kompetenten Beistand im Sterben zu leisten", den Freitod bei unheilbaren Krankheiten aktiv zu unterstützen. Eine andere Minderheit sieht im Tod auf Wunsch einen Akt zum Wohle des Patienten.

Nur der "Schatten der deutschen Geschichte" verbiete es, eine solche Tötung Schwerkranken grundsätzlich zu legitimieren. Überwiegend lehnt der Ethikrat die Sterbehilfe-Organisationen wie Exit oder Dignitas ab; "einige Mitglieder" halten deren Tätigkeit für eine tolerable Zwischenlösung, solange keine "professionelle Suizidhilfe durch die behandelnden Ärzte" angeboten werde.

Einig ist man sich lediglich im Widerstand gegen eine "Kommerzialisierung der Suizidbeihilfe". Geschäfte mit dem Tod soll es nicht geben.

Wie stets gibt es ein Minderheitenvotum. Der katholische Bischof Anton Losinger, der Theologe Eberhard Schockenhoff und Peter Radtke von der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien kritisieren ein Menschenbild, das "einseitig an den Idealen von Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit" ausgerichtet sei.

Die "Hochschätzung des Lebens" verbiete organisierte Suizidbeihilfe. Wer die Tötung auf Verlangen dulde, erhöhe den ökonomischen Druck auf die Schwerkranken und Sterbenden.

Vom Juli 2007 an soll ein stärker an das Parlament angebundener Deutscher Ethikrat den Nationalen Ethikrat ersetzen. Dessen vielleicht letzte Stellungnahme liest sich streckenweise wie ein Nachruf in eigener Sache.

Noch einmal wird mit hohem rhetorischen und intellektuellen Aufwand die Unmöglichkeit eines tragenden Konsenses vorgeführt. Mehr als Denkanstöße liefern, kann kein Ethikrat; ob er nun deutsch sein will oder national.

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Quelle:
SZ vom 14.7.2006
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