Kommentar:Hirte der Völker

Eine der großen Figuren des 20. Jahrhunderts hat die Bühne verlassen - Johannes Paul II. war ein Star wie noch nie ein Papst. Doch dass seine Begriffe vom Leben der Menschen viel zu eng geblieben sind, dürfte sich schon in dieser Generation schmerzlich erweisen.

Von Gustav Seibt

Eine der großen Figuren des 20. Jahrhunderts hat die Bühne verlassen. Man muss weit zurückgehen in die Geschichte, bis man einen Papst findet, der die Welt insgesamt so unmittelbar beeindruckt hätte wie Johannes Paul II.

Johannes Paul II.

Johannes Paul II., voller Sorge in der neuen weltreligiösen Konstellation.

(Foto: Foto: ddp)

Gibt es überhaupt einen? Die beiden prägenden Kirchenoberhäupter des 20. Jahrhunderts vor ihm - Pius XII. und Johannes XXIII. - waren antipodische Ausprägungen des Katholischen, der eine als Diplomat und Mystiker, der andere als eine Art universaler Landpfarrer.

Johannes Paul II. überragt sie beide, nicht nur in der Ausstrahlung, sondern auch an realer Wirksamkeit. Ihm fehlte alles Kuriale, das Lateinische, das dem Bischof von Rom traditionell eignete.

Der erste Pole auf dem Stuhl Petri vollbrachte das Kunststück, wie ein vollkommen moderner Mensch zu wirken, ohne dass er den geringsten Abstrich an jenem Glauben vorgenommen hätte, zu dessen irdischem Hüter er bestellt war.

Seine Würde kam nicht aus dem Ornat, so gut dieser ihn kleidete; er war eine diesseitige Person, die man beim Sport beobachten konnte und deren lange Hinfälligkeit in allen Phasen öffentlich blieb.

Exemplarisches Menschsein

So lebte der oberste Amtsträger der ältesten Institution der Welt ein exemplarisches Menschsein auch leiblich vor.

Mit den modernen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln ging der geniale Charismatiker so selbstverständlich um wie mit Menschenmassen auf Fußballplätzen. Noch sein Verstummen inszenierte der Hirte der Völker als Abschied von seiner auf dem Petersplatz als Menge versammelten Gemeinde.

Die letzten öffentlichen Laute seiner einst so weittragenden Stimme gewannen gerade in ihrem Minimalismus ungeheure Ausdruckskraft.

Welcher Staatsmann hätte Ähnliches riskieren können?

Er war ein Star wie noch nie ein Papst, mit globaler Präsenz, so wie es sonst in dieser Welt nur ein Präsident der Vereinigten Staaten sein kann.

Als er sein Amt antrat, war die letzte Stunde des sowjetischen Kommunismus gekommen, nur haben das damals die wenigsten wahrhaben wollen. Der Papst machte es auf einen Schlag sichtbar.

Als er sein Heimatland nach seiner Wahl besuchte, läuteten die Glocken von der Ostsee bis zu den Karpaten, und es zeigte sich: Polen war selbstverständlich ein katholisches Land auch nach vierzig Jahren eines atheistischen Regimes. Die kommunistische Ideologie schien sich als armseliger Spuk in Luft aufzulösen.

Im Rückblick erscheint das Jahr 1978, der Beginn seiner Amtszeit, als erster Abschied vom Säkularismus des europäischen Revolutionszeitalters - in seiner Tragweite vergleichbar dem, was der iranische Umsturz von 1979 für die muslimische Welt bedeutete.

Rückkehr der Religionen in die Weltpolitik

Damals setzte jene Rückkehr der Religionen in die Weltpolitik ein, die unsere Gegenwart maßgeblich bestimmt.

Am Ende seiner Amtszeit, als der Papst den Irak-Krieg der USA bekämpfte, agierte er voller Sorge in der neuen weltreligiösen Konstellation. Ob sie mehr sein wird als eine geschichtliche Episode, wird sich erst in den kommenden Jahrzehnten erweisen.

Der Papst beförderte diesen Szenenwechsel, indem er nicht etwa als Kirchenpolitiker oder Amtsträger auftrat, sondern als Priester und Glaubenslehrer, durchdrungen von einer unverrückbaren Wahrheit. Stalins Frage nach den Divisionen des Papstes enthüllte er als materialistische Fehleinschätzung.

Hirte der Völker

Schon als Bischof von Krakau hatte er nicht den Zusammenstoß mit den politischen Mächten gesucht, sondern Kirchen und Plätze mit Predigten gefüllt. Nach seinem Amtsantritt beendete er schleunigst die alte vatikanische Ostpolitik, das Taktieren und Kompromisseschließen mit Parteiapparaten.

Als Politiker war Johannes Paul II. Zeitgenosse von ähnlich prinzipienfesten, ähnlich schlicht denkenden Staatslenkern wie Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Vaclav Havel und Lech Walesa. Wie sie hatte er sich aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet.

So konnte man ihm nichts vormachen. Dazu kam die besondere Prägung durch die Geschichte seines Landes. Sein Geburtsort liegt nur eine Stunde von Auschwitz entfernt.

Mit seiner Philosophie der Person und ihrer Würde, mit dem bedingungslosen Festhalten am Lebensschutz, aber auch mit seinen Schuldbekenntnissen am Jahrtausendende hat er eine Summe der Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts gezogen.

Johannes Paul II. lieferte in ihr die Antwort der katholischen Kirche auf den Holocaust, die der diplomatische Pius XII. der Welt schuldig geblieben war und die auch das Vatikanische Konzil noch nicht gegeben hatte.

Die unmittelbar wirksamste Leistung dieses Pontifikats besteht in der Veränderung der kirchlichen Geografie, mit der er das Versprechen von Weltkirche einzulösen begann.

Der für die Öffentlichkeit sichtbare Teil zeigte sich in der rastlosen Reisetätigkeit des Papstes, der sich nicht zu schade war, noch die kleinsten, entlegensten Völker zu besuchen.

Das hatte seine theologische Seite in einem kühnen, experimentell anmutenden spirituellen Ökumenismus, so wenn der Papst zusammen mit Muslimen, Buddhisten und Indianern in Assisi für den Frieden betete - was ihn nicht daran hinderte, den traditionellen Kirchenbegriff strenger definieren zu lassen.

Zukunftsträchtiger dürfte der radikale Umbau des Kardinalskollegiums sein, in dem nun nicht nur die Italiener zur Minderheit geworden sind, sondern sogar die Europäer.

Ein zweideutiges Erbe

Dieser Umbau in der Zentrale bedeutete auch die Aufwertung armer, junger und spirituell unverbrauchter Erdgegenden gegenüber den alten, moralisch erschlafften Wohlstandszonen. Johannes Paul II., der Erzfeind des Kommunismus, war kein Freund des Kapitalismus.

Westliche, vor allem westeuropäische Dekadenz sah er ähnlich wie mancher muslimische Kritiker der Moderne. Er blieb, was er von Anfang an gewesen war: ein Vorkämpfer gegen die Entzauberung der Welt, gegen einen scheinbar unaufhaltsamen Säkularismus.

Wie jeder große Mann war er auch ein Verhängnis. So mitreißend die Wirkungen des Papstes außerhalb seiner Kirche waren, das Glaubensleben in ihrem Inneren hat er, je länger desto mehr, ins Stocken gebracht.

Die Kirchen selbst in seiner Diözese Rom müssen ihren Nachwuchs immer öfter aus der Dritten Welt holen. Das imposante Gebäude der kurialen Theologie, das Kardinal Ratzinger unter seiner Protektion zementierte, fasziniert heute unfromme Intellektuelle weit mehr, als es einfache Gläubige bewegt.

Vor allem dass das Verhältnis zwischen Frauen und Männern sowie die Art der menschlichen Fortpflanzung sich historisch wohl unwiderruflich verändert haben, das will die Kirche zum Schaden für ihre Kernbotschaft bis heute nicht zugeben.

Johannes Paul II. hat notwendige Siege über die Moderne errungen, und er hat sich dabei ihrer Medien vorurteilslos bedient; doch dass seine Begriffe vom Leben der Menschen heute viel zu eng geblieben sind, dürfte sich schon in dieser Generation schmerzlich erweisen.

Ein zweideutigeres Erbe hat selten ein Pontifex antreten müssen als der Nachfolger dieses Papstes.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: