Kommentar:Gespaltene Geschichte

60 Jahre nach Kriegsende: Die Deutschen haben den 8. Mai 1945 in ihrer Erinnerung nicht gepflegt. Das ändert sich gerade.

Von Hans Werner Kilz

Erinnerung lebt von Bildern, von Symbolik: der Sowjetsoldat auf dem Reichstagsgebäude, Willy Brandts Kniefall in Warschau, Helmut Kohls Händedruck mit Mitterrand über den Gräbern von Verdun. Das sind Gesten, die für Sieg und Niederlage stehen, für Triumph und Scham, für Entschuldigung und Verzeihung.

Soldaten der Roten Armee jubeln im Mai 1945 vor der Siegessäule in Berlin

Soldaten der Roten Armee jubeln im Mai 1945 vor der Siegessäule in Berlin.

(Foto: Foto: ddp)

Gesten, die an die Vergangenheit erinnern, die Vergangenheit deuten und quasi symbolhaft die Haltung eines ganzen Volkes im Umgang mit ihr ausdrücken.

Am Montag wird erstmals ein deutscher Bundeskanzler in Moskau an Gedenkveranstaltungen teilnehmen, mit denen Russland den Sieg über den Nationalsozialismus feiert.

Auch wenn es "in Europa", wie Gerhard Schröder in seinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung schreibt, "kein einheitliches Erinnern an den Zweiten Weltkrieg und das Kriegsende gibt", weil "die jeweiligen nationalen Bezugspunkte höchst unterschiedlich sind", gibt es an der politischen Deutung der Kapitulation des Deutschen Reiches keinen Zweifel: Der 8.Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.

Zu dieser Deutung hat sich am 8.Mai 1985, wahrlich spät genug, Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer großen Rede vor dem Deutschen Bundestag bekannt. Und mit Gerhard Schröder gibt erstmals ein Bundeskanzler dem deutschen Geschichtsverständnis die außenpolitische Beglaubigung.

Schröder gedachte letztes Jahr an der Seite der Polen des Warschauer Aufstands, würdigte in der Normandie gemeinsam mit den Siegermächten die "Befreiung Europas" durch alliierte Truppen und folgt jetzt der Einladung seines Freundes Putin, dessen Land im Zweiten Weltkrieg 20 Millionen Menschen verlor.

Sechzig Jahre nach Kriegsende gibt es in Deutschland noch immer keine gemeinsame Interpretation der deutschen Geschichte. 1945 waren die Geschichtsbilder plötzlich gespalten und sie sind es - trotz Wiedervereinigung - bis heute geblieben.

Die Nation lebte mit zweierlei Geschichte, "einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft", wie es der Historiker Peter Graf Kielmansegg formuliert hat. Es war eben ein großer Unterschied, mit den Amerikanern oder mit den Russen verbündet zu sein.

Das Trauma der Väter

Der 8.Mai 1945, als Generalfeldmarschall Keitel im Hauptquartier von Marschall Schukow in Berlin-Karlshorst die Kapitulation unterzeichnete, war der Beginn dieser doppelten Geschichte. Warum aber erfährt die Erinnerung an das Kriegsende 60 Jahre danach eine so "unerwartete Konjunktur"? Es besteht Nachholbedarf.

Die traumatischen Erinnerungen der Deutschen an die Schrecken des Nazi-Terrors wurden nur ungenügend behandelt oder ganz verdrängt. Die Generation der Väter, die jene erzogen, die heute im Alter des Kanzlers sind, waren gefallen oder sie schwiegen, weil sie sich schämten und nicht erinnert werden wollten.

Gespaltene Geschichte

Desorientiert und zutiefst verunsichert, wollte sich keiner mehr auf die Vergangenheit beziehen. Die Zukunft schien ungewiss, und die Gegenwart zeigte sich unbarmherzig und voller Mühen: Es fehlte das Nötigste, das Essen, die Kohle zum Heizen, die Kleidung; Frauen und Kinder schlugen sich durch, die Männer waren vermisst, in Kriegsgefangenschaft, etliche kehrten erst Mitte der fünfziger Jahre zurück. Da war Deutschland schon wieder Weltmeister im Fußball.

Im Westen entfaltete der Antikommunismus die stärkste integrierende Kraft, die ideologische Wertegemeinschaft war Adenauer wichtiger als die Einheit der Nation. Die Zweistaatlichkeit wurde von denen, die nach dem Krieg im Westen aufwuchsen, gleichgültig hingenommen.

Die innerdeutsche Grenze, die Berliner Mauer, das Ulbricht- und später das Honecker-System - all dies wurde als politisch ausweglos empfunden. Das nationale Ganze stand nicht mehr auf der Agenda.

Und in der DDR bot der Mythos vom anderen, antifaschistischen Deutschland bequeme Nischen, in denen sich die Belasteten des NS-Regimes verstecken und - mit Billigung der SED-Machthaber - ohne Aufhebens integrieren konnten.

Sieg ohne Freiheit

Der 8.Mai war für die meisten Deutschen eben doch der Tag des Zusammenbruchs, der Niederlage. Es wäre feige und unwürdig, das zu leugnen. Als Befreiung durften ihn nur jene empfinden, die in oder außerhalb Deutschlands gegen Hitler gekämpft hatten, die in Gefängnissen oder Konzentrationslagern überlebten.

Zum Feiertag taugt dieser Tag nicht. Er weckt Erinnerungen an das Grauen der Bombennächte, an Millionen Opfer, an Elend, Hunger und die Vernichtung der Juden. Befreier waren die Gegner von einst, die Hoffnung weckten auf den Neubeginn, auch bei den Ostdeutschen und den Osteuropäern, den Ungarn, Polen, Tschechen und Balten, die dann enttäuscht waren über den vergeblichen Sieg. Sie lebten ein weiteres halbes Jahrhundert in Angst und Unfreiheit.

Auf den 30-jährigen Krieg des 20.Jahrhunderts, der von 1914 bis 1945 dauerte, folgte der Kalte Krieg, das bipolare Machtsystem, die Aufrüstung mit nuklearen Waffen, die den Krieg bannten, ohne die Welt behaglicher zu machen. Die Deutschen haben versucht, aus der Geschichte zu lernen.

Gespaltene Geschichte

Sie setzten soziale Partnerschaft gegen zu mächtiges Kapital, wollten mit der Marktwirtschaft die freiheitliche Demokratie ökonomisch verankern. Franz Müntefering wird heute für Sätze geprügelt, mit denen Kurt Schumacher, der erste SPD-Vorsitzende nach dem Krieg, die Menschen auf den Trümmern begeisterte.

"Die politische Entmachtung der großen Industrie", so der Sozialdemokrat 1948, "ist die Voraussetzung für die Krisenfestigkeit der Demokratie in Deutschland."

Deutschland wahrt die Machtbalance

Konrad Adenauers Leistung war es, Deutschland an westliche Partner zu binden und in seiner europäischen Mittellage zu sichern. Willy Brandt öffnete mit seiner Außenpolitik das Tor zum Osten, Helmut Kohl gelang es, die nationale Einheit mit Hilfe von Gorbatschow zu vollenden.

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus hat die bipolare Welt aufgehört zu existieren, Deutschland liegt - anders als nach 1945 - nicht mehr in der kritischen Zone der nuklearen Welt; Außenpolitik taugt nicht mehr als Katalysator innenpolitischer Optionen. Das größere, vereinte Deutschland wahrt in Europa die Machtbalance.

Putin und Schröder vertreten am Montag in Moskau die beiden Völker, die im Krieg am meisten gelitten haben. Deutsche Regierungschefs können Verzeihung nicht fordern. Den Siegern von einst, Amerikanern, Russen, Engländern und Franzosen, obliegt es, zu verzeihen. Das ist ihr Beitrag zur politischen Zivilisation.

Die Deutschen haben den 8.Mai 1945 in ihrer Erinnerung nicht gepflegt. Das ändert sich gerade. Sie haben ein Recht, auch ihrer Leiden am Kriegsende und in den ersten Nachkriegsjahren zu gedenken, mit Würde, ohne agitatorisches Geschwätz. Umwidmen lässt sich der Tag nicht, auch wenn es viele deutsche Opfer gab.

Europa wurde 1945 nicht für die Deutschen, sondern von den Deutschen befreit - von der mörderischen deutschen NS-Gewalt.

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