Europäische Union:Zeit der Entscheidung

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Die EU ist politisch nicht zu Ende gebaut, sondern auf halbem Wege stehen geblieben: ein Koloss, der nicht weiß, wohin er will. Dieses Versäumnis holt sie jetzt ein. (Foto: dpa)

Der Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den EU-Institutionen war unvermeidbar. Er legt die Schwächen der Union bloß. Will Europa überleben, muss es den Sprung in eine politische Union wagen.

Kommentar von Thomas Kirchner

Manchmal braucht es einen Blitz, um klarer zu sehen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank ist so ein Blitz. Er erhellt die Lage und lässt das eigentliche Problem erkennen, das hinter dem Richterspruch aus Karlsruhe steckt: die ungeklärte Frage, wie es weitergehen soll mit dem gemeinsamen Europa. Die Politiker drücken sich vor dieser Frage, aus Mutlosigkeit, aus teilweise verständlicher Angst vor Widerwillen in der Bevölkerung. Deshalb ist die EU nicht zu Ende gebaut, sondern auf halbem Wege stehen geblieben: ein Koloss, der nicht weiß, wohin er will. Dieses Versäumnis holt die EU jetzt ein.

Das gemeinsame Europa ist ein Segen für den Kontinent. Zusammen sind die Europäer viel stärker als allein, vereint hauen sie sich nicht die Köpfe ein. Aber Europa ist auch ein Wagnis. Aus freien Stücken verzichten die Mitgliedstaaten der EU auf das Recht, über wesentliche Aspekte ihres Daseins selbst zu bestimmen, und ordnen sich einer höheren Autorität unter. Sie akzeptieren, gelegentlich zurückstecken zu müssen, überstimmt zu werden - im Glauben, dass dies langfristig eben doch in ihrem Interesse sei. Den Briten ging das zu weit, deshalb sind sie ausgetreten.

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Doch der europäische Wille, dieses Ja zu Europa - und zu den Zumutungen, die damit einhergehen - ist überall, nicht nur in Deutschland, schwächer geworden in jüngster Zeit. Das ist umso gravierender, als wir nicht mehr in der Gemeinschaft der 1980er-Jahre leben. Inzwischen sind die Grenzen gefallen, und bei den Mitgliedern der Euro-Zone geht es ums Eingemachte: das Geld. Wenn "andere" über die eigenen Milliarden entscheiden, wird die Bereitschaft zur Unterordnung auf die Probe gestellt. Dann fällt es noch schwerer, europäisch statt national zu denken.

Verschärft wird die Lage durch die mangelhafte Konstruktion des Euro. Dessen Gründer wussten, dass sie etwas Unfertiges in die Welt setzten. Jacques Delors mahnte, dass zur gemeinsamen Geld- eine gemeinsame Finanzpolitik treten müsse; Helmut Kohl hoffte, die politische Union werde quasi von selbst kommen. Man nahm den Mangel also in Kauf - besser dieser Euro als keiner - und machte sich gegenseitig Mut mit der Erwartung, dass die Einheitswährung die beteiligten Volkswirtschaften homogenisieren werde. Das Gegenteil geschah. Die Länder entwickelten sich auseinander: Das einheitliche Zinsniveau stärkte auf Dauer die Starken und schwächte die Schwachen. Die Finanzkrise akzentuierte das Missverhältnis und führte zur Euro-Krise, die nicht aufhören will. Parallel dazu rückte die politische Union in immer weitere Ferne.

Angela Merkel denkt in die richtige Richtung

In diese Wunde stoßen Euro-Warner wie Peter Gauweiler seit bald 30 Jahren - umso erfolgreicher, je klarer die Widersprüche des Euro zutage treten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich, im Wunsch, das Grundgesetz zu verteidigen, zum Vollstrecker dieser Kritik gemacht. Ein Clash war unvermeidlich: hier das souveränistische Karlsruher Rechtsverständnis, dort die Erfordernisse einer Währungsunion. Die unabhängige EZB handelt eben im Interesse aller Euro-Staaten, nicht speziell im deutschen. Als sich die Bundesrepublik auf den Euro einließ, stimmte sie im Prinzip zu, dass die EZB eines Tages tun würde, "was auch immer nötig ist", um die Währung zu retten. Das kann, aus deutscher Sicht, als "unverhältnismäßig" erscheinen. Aber effiziente Geldpolitik muss manchmal unverhältnismäßig sein.

Deshalb wird sich das Problem nicht lösen lassen, wenn sich politisch nichts ändert. Spätestens wenn die Klagen gegen das laufende Corona-Rettungsprogramm eintrudeln, dürfte es endgültig zum Eklat kommen. Denn unter Berufung auf die Dimension der Krise überschreitet die EZB hier aus Karlsruher Sicht vermutlich noch stärker ihre Kompetenzen als bei den bisherigen Anleihekaufprogrammen.

Abhilfe schüfe nur ein Europäisierungsschub, die Unterfütterung der Währungsunion durch eine politische(re) Union: mit europäischem Finanzminister, gemeinsamer Arbeitslosenversicherung, substantiellen Transferzahlungen und - nicht zuletzt - gemeinsam ausgegebenen Anleihen. Ergänzt werden müsste dies durch eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der EU samt Ausbau der Kommission zu einer Exekutive, kontrolliert von einem Zwei-Kammern-Parlament.

So sähe ein funktionierendes und auch international schlagkräftigeres Europa aus. Dass es kommen wird, ist unwahrscheinlich. Aber Angela Merkel scheint zumindest in die Richtung zu denken. Im Bundestag hat sie bemerkenswert reagiert auf das Urteil: Unter Berufung auf Delors sagte die Kanzlerin, es müsse jetzt "mehr Integration" geben, nicht weniger; selbst Änderungen der EU-Verträge dürften "kein Tabu" sein. Macht Berlin - dank Karlsruhe - nun doch mit bei den ehrgeizigen Plänen Emmanuel Macrons? Dann könnte es bei der anstehenden Konferenz zur Zukunft Europas entgegen den bisherigen Erwartungen spannend werden.

© SZ vom 15.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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