Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Der neue Antisemitismus

Wer heute über Antisemitismus redet, der redet nicht über ein paar versprengte Neonazis in Deutschland. Heute gibt es in Europa einen neuen Antisemitismus, der das Wertesystem der Gesellschaft benutzt. Der neue Antisemitismus kombiniert klassische antijüdische Klischees mit dem Wertekanon der postmodernen, konfliktscheuen Wohlstandswelt.

Von Stefan Kornelius

An diesem Mittwoch beginnt in Berlin eine große Konferenz zum Antisemitismus, die in Wahrheit eine große Konferenz über Israel, die arabische Welt und den Westen ist. Es geht um die Schockwellen, die der Krieg im Irak und der israelisch-palästinensische Konflikt in die ach so postmodernen und pazifistischen Gesellschaften vor allem Europas gesandt haben.

Denn wer heute über Antisemitismus redet, der redet nicht über ein paar versprengte Neonazis in Deutschland, die rassenbiologischen Gedankenmüll ausgraben. Der Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschlands ist überwunden, auch wenn er wohl niemals erlöschen wird.

Heute gibt es in Europa einen neuen Antisemitismus, subtiler und klebriger als der vergangene, weil er sich nicht einer plumpen Ideologie bedient, sondern das Wertesystem der Gesellschaft benutzt. Der neue Antisemitismus kombiniert klassische antijüdische Klischees mit dem Wertekanon der postmodernen, konfliktscheuen Wohlstandswelt. Er hantiert mit Täter- und Opferbildern, er moralisiert und simplifiziert - und er bietet wieder einmal viel zu leichte Antworten auf viel zu komplizierte Probleme.

Dieser neue Antisemitismus kommt über die Hintertür des Antizionismus, der Kritik an der israelischen Politik oder lediglich an der Person des Premiers Ariel Scharon. Israels Rolle im Nahostkonflikt ist der Nährboden, auf dem er entstehen kann. Wohlgemerkt: Allein Israels Politik, nicht der komplexe Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.

Denn der neue Antisemitismus ignoriert ganz einfach das gewaltige Entwicklungsdefizit der arabischen Gesellschaften, er ignoriert das autokratische Syrien oder das feudalistisch-marode Saudi-Arabien, deren innere Probleme wirklich nicht zu begründen sind mit dem Konflikt in Gaza oder dem Westjordanland.

Der Schlüssel zur Lösung aller Probleme des Westens mit der arabischen Welt soll plötzlich allein in Israel liegen. Deswegen heißt es ganz unrelativiert: So lange Scharon eine harte - und leider tatsächlich in zu vielen Punkten kritikwürdige - Politik betreibt, wird es keinen Frieden geben können zwischen den berühmten arabischen Massen und dem Westen. Diese Logik ist falsch, aber sie hat Einzug gefunden in den intellektuellen mainstream der Europäer. Und der neue Antisemitismus bedient sich dankbar dieses Arguments.

Viele Studien und ein unvoreingenommener Blick zeigen, dass es nicht nur (wenn auch oft) muslimische Tätergruppen sind, die in Frankreich jüdische Schulen anzünden mit dem Hinweis auf den Nahostkonflikt. Auch in Deutschland gibt es Gewalt, und die jüdischen Gemeinden bezahlen die Sicherheit mit Einschränkungen der Freiheit: Synagogen, Schulen, Gemeindeeinrichtungen sind verbarrikadiert wie mittelalterliche Festungen.

Meist kommt der Antisemitismus aber ohne Gewalt daher: Scharon wird auf Karikaturen mit einem Davidstern gezeichnet, Palästinenser-Präsident Jassir Arafat wird in KZ-Wäsche dargestellt, häufiger kommt es zu Formulierungen wie "man wird ja wohl noch sagen dürfen".

Der in den arabischen Medien transportierte blanke Antisemitismus - "Die Protokolle der Weisen von Zion" ist das am meisten verbreitete Pamphlet - sickert in abgewandelter, aber nicht unbekannter Form zurück ins europäische Bewusstsein: Juden und Weltherrschaft, Verschwörung mit dem imperialistischen Amerika, Geld und Macht.

All dies deutet auf das simple Muster, nach dem der neue Antisemitismus funktioniert. Er kidnappt die Vorstellung von Rassismus und Kolonialismus, er teilt viel zu eindeutig in Täter und Opfer ein. Bei Attac, der Anti-Globalisierungs-Bewegung, ging man so weit und debattierte, ob der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern eine Art entwicklungspolitischer Befreiungskrieg sei. Da schütteln sich die extreme Linke und die extreme Rechte freudig die Hand - was in der Geschichte des Antisemitismus ja auch keine neue Erfahrung ist.

Wird man also nicht mehr kritisieren dürfen? Selbstverständlich darf man - den Zaun, die Liquidierungs-Politik, die Einseitigkeit der USA. Der Vorwurf des Antisemitismus darf nicht dazu missbraucht werden, sich gegen Kritik zu verwahren.

Natürlich kann man auch darauf hinweisen, dass US-Präsident George Bush im Wahlkampf Israel nicht verprellen will, weil er Stimmen jüdischer Wähler braucht.

Das ist demoskopisch belegt, vor vier Jahren in Florida etwa. Die Grenze zum Antisemitismus wäre überschritten, wenn man eine Wählerverschwörung unterstellte, wenn es also um die heimliche Herrschaft einer Minderheit ginge. Nein, die Wall Street ist nicht von Juden beherrscht.

Der islamistische Fanatismus kennt nur ein Ziel: die Zerstörung Israels, die Eliminierung des jüdischen Staates und seiner Menschen. Wer sich eine Bombe um den Bauch schnallt, wer Kinder und Frauen in die Luft sprengt, der hat dieses Ziel vor Augen. Gewiss verschärft Scharons Vorgehen und die unbalancierte Unterstützung durch Bush diesen Terror. Aber zwischen der Kritik an dieser Politik und der klischeegetriebenen Verurteilung eines Landes im Existenzkampf gibt es einen Unterschied. Er nennt sich Antisemitismus.

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SZ vom 28.4.04
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