Kolumne:Zuversicht

Kolumne: Die Kolumne der kroatisch-deutschen Schriftstellerin Jagoda Marinić, 40, erscheint alle vier Wochen samstags an dieser Stelle.

Die Kolumne der kroatisch-deutschen Schriftstellerin Jagoda Marinić, 40, erscheint alle vier Wochen samstags an dieser Stelle.

Das Gift des Gegeneinanders ist eingedrungen ins Gemeinwesen. Es braucht im neuen Jahr mehr Räume des "Ich und Du" und des "Wir".

Von Jagoda Marinic

Man redet nicht zueinander, sondern in die gesichtslose Öffentlichkeit hin." Das ist kein Satz über die sozialen Medien im 21. Jahrhundert, sondern einer aus Martin Bubers Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels von 1953. Er kritisierte die Debatten der Staatenvertreter, die kein Menschengespräch mehr seien; früher war nicht alles besser. Es wird nicht zueinander geredet - Bubers Satz stimmte auch 2017. Es wurde stattdessen viel gegeneinander geredet. In die Öffentlichkeit haben sich Gesichter gedrängt, die durch grelles, aufwiegelndes Gegeneinander vortäuschen, etwas für das Miteinander der Menschen tun zu wollen. Damit es uns besser gehe, müssten wir uns - ihrer Logik zufolge - nur anderer entledigen. Man müsse gewisse Fortschritte rückgängig machen, Umweltschutz zu einem Hirngespinst und Grundrechte zu Almosen erklären oder dergleichen. Wie lässt sich ins neue Jahr gehen in Anbetracht solcher Zersetzungen, die das Gift des vergangenen Jahres im Gemeinwesen verursacht hat?

"Wir lieben dich sehr" - sagt man in Spanien. Und für einen Moment erträgt man den Nachbarn

In Deutschland werden Millionen in Feuerwerkskörper gesteckt. Es muss knallen, Funken schlagen. In Spanien hingegen, wo ich das neue Jahr erwarte, stecken die Menschen sich kurz vor Mitternacht zwölf Glückstrauben in den Mund. Es wird still im Raum, man blickt in erwartungsvolle Augen: Uvas de la suerte. Die Bewohner eines ganzen Landes essen in der Neujahrsnacht Trauben, die Glück verheißen; Fremde in Restaurants und auf öffentlichen Plätzen, Familien und Freunde in Wohnzimmern. An manchen Orten gibt es Glockenschläge. Für jede Traube eine.

In dieser Nacht zum neuen Jahr werden die Separatisten und Unionisten Kataloniens dasselbe tun - und sich gleichzeitig unter Glück etwas ganz anderes vorstellen. Reichen solche Rituale, um sich - zumindest in der Silvesternacht - als Gemeinwesen zu fühlen? Woher kommt das Vertrauen, diese alten Traditionen gemeinsam zu begehen, obwohl man weiß, im Alltag wird man in zentralen Debatten nicht zueinander finden? Müssen aus diesen Differenzen Gräben werden, die unaufhaltsam wachsen? Im Alltag zerstückelt sich die Gesellschaft: gefugt wird mit Hass, geklebt mit Spott. Die Neujahrsnacht hingegen ähnelt dem Moment, in dem sich während eines Gottesdienstes die Menschen in der Kirche die Hände reichen und sagen: "Der Friede sei mit dir". Für eine Sekunde erträgt man das Lächeln der Nachbarin, die einem sonst nur auf die Nerven geht.

Es ist diese Balance von Nähe und Distanz, Versöhnlichkeit und Unvereinbarkeit, die ein Gemeinwesen zu einem atmenden Miteinander macht - oder zu einer deformierten Zwangsgemeinschaft. Strukturen fördern Gemeinschaft, doch Strukturen an sich sind nicht lebendig. Sie bilden nur das Gerüst, entlang dessen eine Gemeinschaft gelingen kann - oder nicht: Viele begleiten einen bedürftigen Menschen im Rahmen eines Hilfsprogramms, gehen aber abends selten mit ihm essen; noch seltener bei ihm zu Hause. Das Gemeinwesen bleibt oft in formellen Strukturen gefangen. Verschreiben lässt sich Begegnung - zum Glück - nicht. Sie entsteht nur dort, wo Vertrauen die Basis ist. China versucht nun durch ein totalitäres, digitales Spähsystem Gemeinschaft durch Kontrolle zu erzeugen. Gemeinschaft wird jedoch pervertiert, wenn sie verordnet wird. Wer das versucht, will Macht über etwas Lebendiges erlangen, das vor allem geschehen will.

Im krisengeschüttelten Katalonien wünschen viele zwischen den Jahren einander das Beste, umarmen sich auf offener Straße. Te queremos mucho hört man oft: Wir lieben dich sehr. Ich frage mich jedes Mal, ob sie alle verwandt sind, sich so gut kennen oder woher diese verbale Liebesgabe kommt. Selbst nach einem Sportkurs sagen die Teilnehmer zu ihrer Trainerin: Wir lieben dich sehr. Diese direkte Nähe kommt im deutschen Gemeinwesen oft zu kurz. Wir verstecken uns gerne hinter sachlichem Lob oder Sätzen wie "Der engagiert sich in drei Vereinen." Womöglich ist dasselbe gemeint: Ein Mensch, der sich nicht aufspart und gibt, was er kann. Es muss vielleicht nicht so direkt sein wie in Spanien, doch einer Gemeinschaft, die den unmittelbaren Austausch von Gefühlen scheut, fehlt der Klebstoff, der sie zusammenhält. Es muss einen öffentlichen Raum für das Gefühl geben, damit es nicht nur der Demagogie jener überlassen wird, die mit diesen Gefühlen spielen, um die einen gegen die anderen aufzuhetzen. Dieser Raum muss verteidigt und auch neu erkämpft werden.

Viele Vordenker der digitalen Welt haben vom Internet als einem sozialen Raum geträumt. Doch die sozialen Medien bringen auch die Schwächen des Gemeinwesens ans Licht. Aus ihnen ist die größte Vernetzungsplattform für rechte Kräfte und demokratiefeindliche Lügen geworden. Es wäre eine Illusion zu glauben, die sozialen Medien hätten das alles verursacht. Es war da, verborgen in diesem Gemeinwesen.

Es geht 2018 darum, das Gelingende besser sichtbar zu machen und dafür reale und digitale Räume zu finden. Es braucht weniger "Ich", mehr "Ich und Du". Martin Buber sagte in seiner Friedenspreis-Rede, die Krise des Vertrauens zwischen den Menschen sei auch dadurch entstanden, dass die Menschen keine aufrichtigen Worte füreinander fänden. Ein "Wir" kann nicht behauptet oder beschworen werden. Es ist das Ergebnis des Menschengesprächs. Buber sprach vom "lebendigen Wort zwischen Mensch und Mensch, die Differenzen der Interessen und Gesinnungen Mal um Mal entgiftend". Der um sich greifenden Vergiftung des Gemeinsamen das lebendige Wort entgegensetzen, das wäre Zuversicht.

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