Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Zuhören

Heutzutage scheint Mitteilen wichtiger zu sein als Erleben. Da ist es fast schon subversiv, sich ganz auf jemand anderen einzulassen.

Von Carolin Emcke

Vor einigen Wochen gab der russische Pianist Grigorij Sokolov ein Solo-Konzert in der Berliner Philharmonie. Es war restlos ausverkauft, die 2250 Sitze in dem Saal mit den aufsteigenden Logenterrassen waren alle besetzt. Unter tosendem Beifall betrat Sokolov die Bühne, sobald er sich aber an den Flügel setzte, wurde es still. Ganz still. Kein Husten, kein Rascheln. Das Programm sah Musik der Romantik von Robert Schumann und Frédéric Chopin vor; danach beschenkte Sokolov uns, das Publikum, mit einer nicht enden wollenden Freude an Zugaben. Ein ums andere Mal verschwand er hinter der Bühne. Ein ums andere Mal kam er zurück, nahm den Applaus eher peinlich berührt als vergnügt entgegen, und schien erst wieder entspannt zu sein, wenn er auf dem Hocker vor seinem Instrument Platz nehmen konnte, um zu spielen.

Was so berührte an diesem Abend, war nicht allein die Musikalität des Pianisten, sondern auch seine konzentrierte Versunkenheit. Es war fast beschämend, im selben Raum sein zu dürfen, so intim wirkte Sokolovs Auseinandersetzung mit der Musik. Vielleicht war das der Grund, warum es sich wie eine Aufforderung anfühlte, mindestens im Zuhören eine ähnliche Hingabe an den Tag zu legen wie der Künstler. Jedenfalls blieb das Publikum so fokussiert, wie ich es noch nie erlebt habe. Selbst als einige sich schon zum Gehen aufgemacht hatten und in den Gängen und vor den Ausgängen überrascht wurden von einer weiteren Zugabe, selbst als die Menschen im Stehen oder im Hocken auf den Stufen noch lauschten, war da diese ungebrochene Aufmerksamkeit.

Im dauernden Kopierrausch wird die Wirklichkeit geteilt, zerlegt, verwertet

Und dann erst fiel mir auf, wie selten das geworden ist: die gemeinsame Konzentration auf jemand anderen. Das stille Zuhören. Ohne Unterbrechung oder Ablenkung. Ohne Second-Screen oder Selfies. In Zeiten, in denen jede und jeder mit Handy und Digitalkamera dazu neigt, das Erlebte festzuhalten und weiterzuleiten, bevor es noch eigentlich erfahren ist, denkt kaum mehr jemand darüber nach, was dieser Vorgang eigentlich bedeutet. Es wird zitiert und fotografiert, im dauernden Kopierrausch wird die Wirklichkeit in Cutand-paste-Manier zerteilt, verwertet, versendet - als wären wir als Menschen auf einmal auf eine bloße Wiedergabefunktion beschränkt und der Teilnahmefähigkeit verlustig gegangen. Und in diesem dauernden medialen Reproduktionswahn fliehen wir den Ort und den sozialen Zusammenhang, in dem wir uns befinden. Die Schnelligkeit des Mediums verleitet uns mehr und mehr dazu, das Mitteilen dem Erleben vorzuziehen. Etwas zu erfahren, ohne es umgehend zu duplizieren und zu kommentieren - das gibt es kaum noch.

Vielleicht ist das der Grund, warum Grigorij Sokolov auch Studio-Aufnahmen meidet und sich ganz der Konzerttätigkeit widmet. Es gibt nur die eine Gelegenheit, ihm zuzuhören. Keine Wiederholung, keine Dauerpräsenz im Netz. So wird jeder Abend paradoxerweise gerade durch seine Vergänglichkeit unvergesslich. Gut zweieinhalb Stunden saßen da mehr als zweitausend Menschen und hörten zu. "Zuhören ist Hören in Verbindung mit Denken und Konzentration", sagte einmal Daniel Barenboim im Gespräch mit Evelyn Roll für die Süddeutsche Zeitung, "die meisten Menschen können das gar nicht mehr. Sie machen keinen Unterschied zwischen Hören und Zuhören." Hören, das wäre einfach nur, die Geräusche oder Töne wahrzunehmen - Zuhören verlangt dagegen ein Sich-Einlassen auf das, was zu hören ist, was gespielt oder gesagt wird, und es verlangt, das Gehörte gedanklich mit nachzuvollziehen. Erst durch das Zuhören tritt das Eigene für einen Augenblick zurück und öffnet sich für ein neues Thema, einen neuen Gedanken, eine neue Welt.

Das Zuhören impliziert die Bereitschaft, sich auf die Gedanken, die Interpretation, die Perspektive eines anderen einzulassen. Ohne umgehenden Widerspruch. Ohne die Anmaßung, es prinzipiell besser zu wissen. In Zeiten, in denen eine fragmentierte Öffentlichkeit vor allem das möglichst laute, möglichst enthemmte Propagieren der eigenen Überzeugungen fördert, in denen alle sich selbst ernst nehmen, aber nicht mehr den anderen, ist das Zuhören schon fast ein subversiver Akt. Und eben nicht allein, sondern mit anderen zusammen sich auf etwas zu konzentrieren, auch das ist selten geworden, seit die Bedingungen und Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens einer gemeinsamen Welt ausgehöhlt wurden.

Fast zeitgleich gab es beim Berliner Theatertreffen eine ähnlich leise Sensation: In dem dokumentarischen Stück "Stolpersteine - Staatstheater" erzählte der Regisseur Hans-Werner Kroesinger mit ungeheuerer Präzision, wie von 1933 an die antisemitische Diskriminierung und Entlassung jüdischer Theaterleute am Staatstheater Karlsruhe funktionierte. Dabei verzichtete Kroesinger auf alle sonst üblichen inszenatorischen Mittel, die einen solchen Abend bequem oder pseudo-unterhaltsam machen könnten. Die Schauspieler und Schauspielerinnen saßen, gemeinsam mit dem Publikum, auf harten Kisten oder Bänken um einen riesigen Arbeitstisch und lasen aus Original-Akten, Zeitungsausschnitten, Erinnerungen von Zeitzeugen. Anderthalb Stunden lang entblätterten und entblößten sie so, nüchtern, detailgenau und schonungslos, die bürokratisch koordinierte Menschenverachtung. Wie gnadenlos von einem Tag auf den anderen Menschen aus ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen gerissen werden können, mit welchen rechtlichen Instrumenten das Recht entstellt werden kann, wie nah das alles noch ist - das ließ alle Zuschauerinner und Zuschauer im Raum schaudern. Es passten vielleicht nur 60 Menschen in den kleinen Saal im Haus der Berliner Festspiele. Es war kein angenehmes Zuhören. Aber es war echte Erkenntnis. Vielleicht gehörten diese beiden Abende zu dem Schönsten, was ich in den vergangenen Jahren erlebt und gesehen habe. Nicht allein wegen des künstlerischen Programms, sondern wegen der Besonderheit, mit anderen zusammen, still, etwas zu lernen.

Das ist notwendiger denn je.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2016
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