Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Wesentlich

Die Ehe für alle sollte vor das Bundesverfassungsgericht. Ein Urteil aus Karlsruhe könnte die Zweifel beseitigen, der Beschluss des Bundestages sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Von Carolin Emcke

Im Westpavillon der Orangerie von Kassel ist im Rahmen der internationalen Kunstausstellung "Documenta 14" zurzeit eine spektakuläre Video-Installation des Filmemachers Romuald Karmakar zu sehen. Das Werk mit dem Titel "Byzantion" zeigt zunächst Geistliche einer griechisch-orthodoxen Kirche in Athen wie sie den Hymnus "Agni Parthene" singen. Der Vorsänger preist in mehreren Strophen die Jungfrau Maria, immer im Wechselgesang mit dem Chor aus vier Bassstimmen, die etwas hinter ihm im Halbkreis stehen, und die den Refrain ("Freue Dich, unvermählte Braut") singen.

Mit zwei Kameras gedreht, wechselt der Blick zwischen der nahen Betrachtung der Gesichter der Sänger in ihrer Hingabe zu dem entfernteren Blick der Kamera, die auch den Innenraum der reich verzierten Kirche aufnimmt. Der sakrale Gesang ist so vertraut wie fremd, er entwickelt einen unwiderstehlichen Sog auf alle, die in dem Pavillon stehen oder sitzen. Zudem hat Karmakar den dreiteiligen Videoscreen exakt so gehängt, dass wir immer beides sehen: die singenden Gläubigen in ihrer Versenkung dort und - neben dem Bildschirm beim Blick durch die Fenster - das leuchtende Grün der Karlsauen vor dem Pavillon hier. Nach 5 Minuten 50 endet der Gesang, Abblende und wir sehen nun die Kirche von außen, mitten in der urbanen Umgebung Athens und hören allein den Lärm des Straßenverkehrs. Dann Stille.

Gerade als wir glauben, der Film sei vorbei, beginnt der nächste Teil, wie der erste mit einer Einblende, was nun zu hören sein wird: "Agni Parthene" - "Church Slavonic Version". Nun ist der Bruder-Chor im Kloster von Walaam in Russland zu sehen und zu hören. Auch hier beginnt Karmakar mit einer Einstellung, die den Vorsänger und die ihn umrahmenden Mönche in den Fokus rückt. Auch hier gibt es totale Aufnahmen, die den prachtvollen Kirchenraum zeigen und den siebenstimmigen Chor darin. Wir hören wieder den Lobgesang der Jungfrau Maria, erkennen die Struktur aus Anrufung und Refrain, auch wenn die Sprache eine andere ist, ebenso wie die Strophenzahl. Wieder entfaltet sich dieser Sog, alles beruhigt und besänftigt sich in einem durch den Gesang. Als der Vorsänger schließlich mit einer leichten Kopfbewegung seinen Chor zur Stille auffordert, blendet Karmakar ab und wieder sehen wir eine Außenaufnahme der Kirche, des Klosters Walaam in Karelien in Russland, mitten in der Natur. Es sind nur Vogelstimmen zu hören. Dann Stille.

Es ist brillant. Vergleicht man beim Hören des ersten "Agni Parthene" noch etwas allgemeiner östliche und westliche Kirchenmusik oder deren wechselseitige Durchdringung, sucht man beim zweiten "Agni Parthene" nur noch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den beiden Versionen des in der gesamten orthodoxen Welt so verbreiteten Hymnus: zwischen der Kleidung der Geistlichen hier wie dort, ihren Bärten, den Notenständern, zwischen den Ornamenten und Ikonen an den Innenwänden der Kirchen, der Musikalität der singenden Gläubigen. Wie bei einem Vexierbild wechselt der Fokus hin und her: mal lässt sich nur das sehen und hören, was beiden Versionen gemeinsam ist, das andere Mal nur das, was sie unterschiedet. Nach einer Weile schließlich gelingt es, beides zu erkennen.

Es ist ein so kluges wie bezauberndes Kunstwerk darüber, wie zwei Dinge sowohl gleich als auch anders sein können. "Byzantion" lädt uns ein, Differenzen zu entdecken, um uns im nächsten Moment zweifeln zu lassen, welche Bedeutung ihnen zukommt und ob sie nicht zurücktreten hinter dem Gemeinsamen. Ob sich die Unterschiede auf etwas Wesentliches oder Unwesentliches beziehen, inwiefern eine Tradition an eine Erscheinungsform gebunden ist oder ob Variationen einen kanonischen Text womöglich eher vertiefen als unterwandern, die Vielheit des Einen - all das ist hier zu sehen und zu hören.

Noch steht nicht fest, ob es zu einer Klage gegen die vom Bundestag beschlossene Ehe für alle kommen wird. Es wäre allen zu wünschen: den entsetzten Gegnern, die das rechtliche Institut der Ehe als lebenslange Verantwortungsgemeinschaft zwischen Mann und Frau verstehen, wie den glücklichen Befürwortern, die das rechtliche Institut der Ehe als lebenslange Verantwortungsgemeinschaft zwischen zwei Personen verstehen. Die Frage der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren und die Öffnung der Ehe ist nichts, das allein mit einer veränderten Meinungsbildung gerechtfertigt werden sollte, sondern mit guten Gründen. Gerade für schwule und lesbische Paare, die jahrzehntelang auf diese Anerkennung als Gleiche gewartet haben, ist es wichtig, dass diese Anerkennung nun nicht mit dem Zweifel der Verfassungsmäßigkeit belastet wird. Das Gesetz baut eine bestehende Diskriminierung ab, aber es garantiert noch keine soziale Akzeptanz. Die Aggression, die die Abstimmung vergangene Woche auch ausgelöst hat, war ein trauriger Beleg dafür.

Wäre vom Bundesverfassungsgericht geprüft und bestätigt, dass die Ehe für alle mit dem Grundgesetz vereinbar ist, müssten die Gegner ihre Einwände als das entblößen, was sie nicht immer, aber oft sind: bloßes Ressentiment gegen Homosexuelle. Bei einer solchen Prüfung ginge es um zwei Fragen: gibt es hinreichend gewichtige Unterschiede zwischen beiden Formen einer auf Dauer angelegten, rechtlich verfestigten Partnerschaft, um konkrete Ungleichbehandlung zu rechtfertigen? Und: gäbe es diese hinreichend gewichtigen Unterschiede nicht, darf dasselbe dann den Namen Ehe verwenden, auch wenn sich die Gründergeneration unter dem Wort nur eine Verbindung aus Mann und Frau vorstellen konnte?

Vermutlich ist den Richterinnen und Richtern des Verfassungsgerichts, so sie denn den Auftrag zur Prüfung der Ehe für alle erhielten, das Grundgesetz und die eigene Rechtsprechung der vergangenen Jahre genug Inspiration, aber allen anderen, die sich mit dieser Frage beschäftigen, was wesentlich ist und was unwesentlich, welche Vielfalt an Erscheinungsformen ein und dieselbe Tradition begründen kann, sei ein Besuch in der Orangerie in Kassel empfohlen.

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Quelle:
SZ vom 08.07.2017
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