Kolumne:Weltvergessen

Kolumne: Jagoda Marinić, 40, ist kroatisch-deutsche Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Kolumnistin.

Jagoda Marinić, 40, ist kroatisch-deutsche Schriftstellerin, Kulturmanagerin und Kolumnistin.

Deutschland beschäftigt sich mit sich selbst, während jenseits der Grenzen die Welt im Aufruhr ist. Das hat auch damit zu tun, dass Politiker Wähler unterschätzen.

Von Jagoda Marinic

Crisis? What Crisis?" - so heißt ein Album der britischen Band Supertramp, das Mitte der Siebziger erschienen ist. Der Titel ist ein Zitat aus dem Spielfilm "Der Schakal", was nichts zur Sache tut. Die Krise als solche beschäftigt mich, insbesondere seit Deutschland Ende September gewählt hat. Außer diesem wochenlangen Kasperltheater auf dem Balkon ist seither nichts gewesen. Glauben die Gewählten wirklich, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Land so einfältig ist und die politischen Debatten so wollen, wie sie derzeit geführt werden?

Da ist diese breite Unzufriedenheit, ein Zorn, der bislang nicht in eine produktive Kraft umgewandelt werden konnte. Genutzt haben ihn vor allem Antidemokraten an den Rändern, Extremisten. Ihr Zulauf speist sich aus einer allgemeinen Frustration, die durch diese Sondierungen nur verstärkt wurde. Wenn die Bundespolitik es nicht bald schafft, ihren Bürgern für die Lebenswelt, die sie wirklich beschäftigt, politische Lösungen anzubieten, wird sich die Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden fortsetzen. Vergleicht man, was seit der Wahl weltweit geschehen ist, mit dem, was die deutsche Politik beschäftigt hat, so müsste man den selbstgefälligen Provinzialismus hierzulande, der alles Internationale für eine Fußnote hält, als Krise an sich bezeichnen.

Hierzulande beschäftigt man sich lieber mit der CSU und Glyphosat als mit der Dritten Welt

Dabei gibt es scharfe Analysen und Beschreibungen unseres Zeitalters. Der indische Bestsellerautor Pankaj Mishra schreibt in seinem letzten Buch von einem "Zeitalter des Zorns." Er argumentiert nicht entlang geopolitischer Konstellationen, bemüht keine Statistiken, nein, er bezieht sich auf Schriftsteller und Schreibende als Erkenntnisquelle. So etwas wie "gesellschaftliches Klima" erfassen zu wollen ist riskant in diesen statistikversessenen Zeiten. Das Klima eines mächtigen Landes, in dem innenpolitisch herumgeeiert und weltpolitisch abgeschottet wird, müsste jedem verdächtig sein. Darf man - als führende Kraft in Europa - stehen bleiben beim Reden über kleine Steuererleichterungen und den Soli? Bei harmlosen Auftritten von Spitzenpolitikern in Talkshows? Wo will Deutschland hin?

Mag sein, dass es eine persönliche Krise ist, aber unsre Klein-Klein-Koalitionsgespräche, in denen sich die Parteien so viel wichtiger nehmen als das Land, das sie regieren sollen, als die Bürger, die sie vertreten sollen, haben meine Geduld als Bürgerin überstrapaziert. Während Deutschlands Parteien sich aufführen wie Anfängergremien, steht Europa ohne Führung da. Frankreichs nicht unumstrittener Präsident Emmanuel Macron riskiert Visionen, doch da ist niemand weit und breit, der mit ihm den Realitätstest macht.

Zur Wirklichkeit gehört zum Beispiel Folgendes: Der Nachrichtensender CNN lieferte Beweise für den lange gehegten Verdacht auf Menschenhandel in Libyen. Die dortigen Autoritäten wurden mit dem Material konfrontiert. Nicht nur braucht es eine gute Woche, bis die Meldung vom modernen Sklavenhandel in Deutschland ankommt. In einer ständig sich empörenden Gesellschaft ist sie nur ein Aufreger unter vielen und verebbt. Die geschäftsführende Regierung wurde kaum mit ihren Beziehungen zu Libyen konfrontiert. Stattdessen riskieren einige Journalisten hierzulande Mutmaßungen darüber, ob Merkel ihren Seehofer noch im Griff habe.

In Deutschland beschäftigt man sich eben lieber mit der CSU und dem Glyphosat-Skandal, als mit den Problemen der Dritten Welt. Die könnte man ja umzäunen - durchlässig nur für Handelswege, die in Europa das vielfältige Angebot in Supermärkten sichern. Wann wird die CDU der kleinen bayerischen Schwester eine Lektion erteilen und sie etwa durch die Grünen ablösen? In diesen Zeiten diskutieren wir über "Alleingänge" von Profilneurotikern, während an den Rändern Europas Grundsätzliches ohne unseren Einfluss ausgemacht wird.

China kürte jüngst Serbien zum zentralen Partner in seinem geopolitischen Projekt namens "Neue Seidenstraße". Sechzehn Länder Südosteuropas werden ihren Blick nun auf China richten. Deutschland profitiert als Exportweltmeister stark vom EU-Binnenmarkt. China fällt nun über neue Förderprogramme in diese Märkte ein. Serbien wird dabei gestärkt, jenes Serbien, das nach dem jüngsten Gerichtsurteil gegen den für Srebrenica mitverantwortlichen Ratko Mladić vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal auch und vor allem die eigene Opfer-Rhetorik des Nationalen zu verstärken weiß. China wird sich daran nicht stören. Europa hat in der Region nicht mehr die Autorität, sich daran zu stören. Denn es ist ein elitäres Europa, das in der humanitären Krise dieses Jahrhunderts bislang versagt hat und deswegen keine Standards in Sachen Menschenrechte mehr vorgeben kann.

Wir elitären Künstler, die inzwischen nur noch gesellschaftlich relevante und vermeintlich wirkungsvolle Kunst staatlich gefördert kriegen, hören im internationalen Austausch immer wieder: "Deutschland ist toll! Da gibt es sonntags Brötchen beim Bäcker und German Gemütlichkeit." Man hört jedoch mindestens ebenso so oft die Frage, ob Deutschland im Tiefschlaf liegt. Wie wir hier so weltvergessen sein können, angesichts unserer Vormachtstellung in Europa. Warum missbrauchen verstärkt radikale Kräfte den Zorn, um die modernen Gesellschaften in Schockstarre zu versetzen - warum nutzen ihn nicht die Verteidiger der Demokratie?

Mag sein, dass einige Bürger in diesem Land frühmorgens aufwachen und sich als Erstes fragen, wie viel netto mehr auf ihrem Gehaltszettel bleibt, wenn der Soli erst abgeschafft ist. Die meisten wachen jedoch auf und beginnen den Tag mit Meldungen wie der, dass Kim Jong-un Raketen testet, und sie fragen, wie Donald Trump darauf reagieren wird. Die Verunsicherung ist vergleichbar mit der allgegenwärtigen Angst während des Kalten Krieges. Wir lernen, wie es ist, in Zeiten zu leben, in denen zu viele Politiker die Bürger ihres Landes unterschätzen. Und sich selbst vielleicht auch.

Krise? Welche Krise?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: