Kolumne:Vorbei

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Russlands Athleten trotz Staats-Dopings in Rio zugelassen, eine mutige Informantin dagegen wird gesperrt - jetzt reicht es mit Olympia.

Von Carolin Emcke

Die erste Nationalhymne, die ich leidenschaftlich und laut mitsummen konnte, war die russische. Damals war es noch die sowjetische und der mir unverständliche Text pries Lenin und Stalin: "Durch Gewitter schien uns die Sonne der Freiheit,/ und der große Lenin leuchtete uns den Weg./ Uns erzog Stalin - zur Treue zum Volk/ zu Arbeit und Heldentaten regte er uns an." Das war 1976. Die Olympischen Sommerspiele fanden in Montreal statt, und die russische Hymne war dauernd zu hören, einfach weil die sowjetischen Athleten so dominierten. Politisch erwünscht war das im Kalten Krieg vermutlich nicht, aber ich freute mich über jede Medaille, die Nicolai Andrianow, der legendäre russische Turner, oder sonst irgendein Russe errang, weil ich mich auf die Musik freute.

Mein großer Bruder hatte sich in Nadia Comaneci verliebt - und ich, wie sich das für eine kleine Schwester gehörte, gleich mit. Damals fiel uns das nicht als ungewöhnlich auf. Nadia Comaneci war die 14- jährige rumänische Turnerin, die für ihre Leistung am Stufenbarren als erste Sportlerin in der Geschichte überhaupt die Bestnote 10,00 erhielt (auf dem Youtube-Video ist zu sehen, dass die Anzeigentafel verwirrenderweise nur eine 1,00 anzeigte. Offensichtlich hatte niemand damit gerechnet, dass eine solche Bewertung jemals erreicht werden könnte). Es war uns völlig gleich, für welches Land sie antrat. Die kindliche Euphorie für den Sport und für Nadia Comaneci war blind für all die ritualisierten Anleitungen zum Nationalismus, die den Inszenierungen der Wettkämpfe immer schon eingeschrieben waren.

Das war mein erstes Olympia. Vierzig Jahre ist das her. Seit Montreal habe ich alle Sommer- und Winterspiele geschaut - und mich immer wieder verliebt und begeistert. Ganz gleich zu welcher Uhrzeit, (fast) gleich welche Sportart. Olympia, das blieb trotz allem und bis zuletzt immer diese unverwüstliche Freude an der Athletik, der Kunstfertigkeit, der Ausdauer, der Leidenschaft der Sportlerinnen und Sportler. Olympia war diese große Liebe, die alles andere vergessen ließ, das waren rauschhafte, durchwachte Wochen und dieses geteilte Glück und Unglück mit Menschen aus allen Gegenden der Welt. Olympia, das waren Momente der Begegnung mit wildfremden Menschen, die ebenfalls am Flughafen, am Bahnhof, in der Kneipe den Atem anhielten und die Entscheidung im Turmspringen oder Biathlon oder 400-Meter-Lagen mitverfolgen wollten.

Das ist vorbei. Es geht einfach nicht mehr. Die Olympischen Spiele von Rio sind die ersten, die ich nicht mehr anschauen mag. Nicht die Trailer, nicht die Vorberichte, nicht die Porträts, nicht die ersten Spiele der Fußball-Auswahl der Frauen oder die der Männer, nicht die Eröffnungsfeier - nichts lockt oder verführt mich mehr zu diesem unsportlichen Spektakel. Es ist aus. Die Liebe ist erloschen.

Olympiabegeisterung verlangte schon immer, Fragwürdigkeiten auszublenden

Natürlich gab es nicht den großen Sündenfall bei Olympia. Natürlich war auch mein erstes Olympia für erwachsene Betrachter schon eine Übung im Ausblenden aller moralischen oder politischen Fragwürdigkeiten, die in die Textur der Organisation und Vermarktung des größten Sportereignisses der Welt eingewoben sind. Wie Klaus Zeyringer in seiner beeindruckenden "Kulturgeschichte der Olympischen Spiele" darlegt, war das Ideal der Völkerverständigung schon lange geschrumpft auf einen kommerziellen Slogan, welcher der exzessiven, globalen Vermarktung des Produkts Olympia lukrative Gewinne garantiert. "Celebrate Humanity", die Marketing-Kampagne aus dem Jahr 2000, das war schon lange kein moralischer Anspruch mehr, sondern nur noch "der Paravent" (Zeyringer), hinter dem sich das Kommerzielle am geschicktesten verdecken ließ.

Die Geschichte der Olympischen Spiele war immer auch eine Geschichte der Komplizenschaft mit menschenverachtenden Regimen. Es reicht, sich anzuschauen, wer alles vom IOC, das symbolisch auftritt wie ein eigener Staat, mit Orden bedacht wurde: unter anderem die Diktatoren Nicolae Ceauşescu aus Rumänien und Todor Schiwkow aus Bulgarien.

Ich hätte mit dem Schauen längst schon aufhören sollen. Aber der notorische Selbstbetrug und die moralische Heuchelei davor gehörten ebenso zum Ritual wie die absolut kriterienlose Begeisterung während der Spiele. In jedem Olympia-Jahr habe ich mich wieder belogen. Vorher habe ich mich echauffiert über die Menschenrechtslage an den Austragungsorten, die Doping-Fälle, die immer erst hinterher öffentlich wurden, die sozialen Verwerfungen infolge von Stadtplanungen, die sich nur an Mega-Events wie Olympia orientieren. Und am Ende saß ich wieder vor dem Fernseher wie das Kind von 1976 und hatte all meine ethischen Bedenken schön in Schubladen verstaut. Selbst bei den Winterspielen von Sotschi funktionierte das noch. Und natürlich ist es eben diese korrupte Selbstmanipulation, deretwegen das IOC mit seinen Machenschaften immer davonkommt: Solange wir alle noch schauen, solange die Einschaltquoten so hoch wie immer sind, solange die Sponsoren sich nicht schämen, so lange wird das Spektakel weitergehen.

Warum es nun doch vorbei ist? Warum diese olympische Disziplin des Slaloms in ethischer Ambivalenz nach vierzig Jahren nicht mehr zieht? Die Entscheidung, den russischen Verband nicht kollektiv zu bestrafen, sondern 271 russische Athleten in Rio starten zu lassen, dafür aber Julia Stepanowa auszuschließen, die mutige Informantin, ohne die die Aufklärung des Staats-Dopings nie gelungen wäre - das hat den letzten Rest an sentimentaler Zuneigung zu Olympia ausradiert. Es ist nicht einmal ein mühsamer Entschluss, nicht mehr zu schauen. Ich muss mich nicht zwingen. Ich habe tatsächlich keine Lust mehr. Es tut mir unendlich leid für all jene Sportlerinnen und Sportler, die fair und leidenschaftlich miteinander ringen wollen. Aber unsere ungetrübte Begeisterung, unsere gedankenreiche Tatenarmut verhindert letztlich jene Reformen, die nötig sind, damit eines Tages wirklich wieder fair und leidenschaftlich gerungen werden kann.

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