Süddeutsche Zeitung

Kolumne von Karl-Markus Gauß:Beleidigungen

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Im Wiener Reichstag beschimpften sich einst die Abgeordneten auf übelste Weise. Auch heute machen so einige Volksvertreter den Parlamentarismus verächtlich.

Der berühmteste amerikanische Schriftsteller kam im Jahr 1897 nach Wien, um hier ein Jahr zu bleiben, in überfüllten Sälen Lesungen zu halten, sich von einem Empfang zum nächsten reichen zu lassen und zum Liebling der guten Gesellschaft zu avancieren. Zwischen dem 28. und 30. Oktober besuchte er den Reichstag, wo er einer nicht nur wegen ihrer Länge legendären Sitzung des österreichischen Parlaments beiwohnte. Was er dort erlebte, darüber ist ihm das Lachen gründlich vergangen. Mark Twain hat über diese drei Tage und Nächte eine scharfsichtige Reportage geschrieben, in der er das amerikanische Publikum davon unterrichtete, wie es in Europa um den Parlamentarismus stand: Was er verfasste, ist keine witzig erzählte Schnurre, sondern der noch heute beklemmende Bericht aus einem Tollhaus.

Was Twain auffiel: dass die politisch, sozial, aber vor allem auch national zerstrittenen Parteien die Debatte, bei der es eigentlich um den Finanzausgleich zwischen Österreich und Ungarn ging, dazu benutzten, einander Zugeständnisse bei Dingen abzupressen, die mit diesem nicht das Geringste zu tun hatten. Was ihn besonders abstieß: wie sich die verfeindeten Abgeordneten einträchtig bemühten, jeden Trick der Geschäftsordnung auszunutzen, um diese selbst zu desavouieren. Und was ihn geradezu fassungslos machte: die Gehässigkeit, mit der sich die Parlamentarier persönlich attackierten.

Da wurde der Präsident des Reichstages, David Ritter von Abramowicz, als "Polakenschädel" niedergebrüllt, dessen Ordnungsrufe ungehört verhallten, weil die national erregten Abgeordneten sämtlicher Nationen, kaum dass er sein Wort erhob, die Deckel ihrer Pulte auf diese knallen ließen. Erschrocken nimmt der amerikanische Besucher zur Kenntnis, dass es in der Mitte Europas ein Land gibt, in dem Antisemiten anderen Antisemiten vorzuhalten pflegen, in Wahrheit Judenknechte zu sein. Der deutschnationale Volkstribun, der auf den urgermanischen Namen Bielohlawik hörte und dem ewigen österreichischen Zitatenschatz das Bonmot: "Wissenschaft is, was ein Jud' vom anderen abschreibt" geschenkt hat, ereiferte sich über einen großdeutschen Kollegen: "Der Mann schändet das Deutschtum."

Kurz, schaudernd erlebte Mark Twain ein Parlament, in dem die politischen und nationalen Gegner einander so verächtlich beschimpften, dass sie den Parlamentarismus selbst lächerlich machten. Zehn Jahre nach Twain wird ein junger Arbeitsloser aus Braunau auf der Tribüne des Reichstags die Debatte verfolgen und sich sagen, dass man die parlamentarische Mehrheit einzig zu dem Zwecke erobern müsse, um die Demokratie abzuschaffen.

Europa geht heute nicht durch die Krise der Weimarer Republik, und im österreichischen Parlament herrschen nicht die Zustände von 1897. Aber dennoch gilt es Dinge zu beklagen, von denen man vor ein paar Jahren noch nicht geglaubt hätte, dass sie sich je wieder zutragen würden. Anfang September gab es im Parlament in Wien eine "Dringliche Anfrage" an den Innenminister, der in seiner Zeit als Oppositionspolitiker selbst zahllose solche Anfragen mit enormer Schärfe formulierte. Das zu tun war als Oppositionspolitiker auch sein gutes Recht. Aber wie reagierte Herbert Kickl von der FPÖ, als nun an ihn selbst 53 solche Fragen gerichtet wurden? Nun, der Herr Minister rollte wild mit den Augen, als würde er auf der Bühne eines Amateurtheaters seinen Chargenauftritt hinlegen, er schaute, sobald er direkt angesprochen wurde, gelangweilt auf die Uhr, gähnte demonstrativ, wenn eine konkrete Auskunft von ihm verlangt wurde, und kratzte sich mit der Rechten ostentativ die linke Achsel. Dabei handelt es sich um eine derbe Geste, die im Kreise von Jugendlichen geübt wird, wenn einer sagen möchte: Das Ganze ist ein Witz, aber ein so schlechter, dass ich mich selber kitzeln muss, um lachen zu können.

Im Parlament wurden auch bisher Debatten Gott sei Dank oft kontrovers, polemisch, angriffig geführt. Und die rhetorischen Rösser sind auch früher mit manchem Redner und Zwischenrufer gleich welcher Fraktion durchgegangen. Nicht jedes Wort soll zuerst durch die strenge Selbstzensur gehen müssen, ehe es auch ausgesprochen werden darf. Und wer in der politischen Auseinandersetzung von einem unkorrekten Witzwort oder einer hinterfotzigen Pointe getroffen wird, braucht nicht sofort in moralischer Entrüstung aufzufahren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass sich ein Innenminister wie ein Heranwachsender aufführt, der seine Aufsässigkeit ausprobieren möchte; der trotzig zeigt, dass ihm jeder Respekt vor Menschen abgeht, die andere politische Auffassungen als er vertreten, und ihm ein Instrument demokratischer Machtkontrolle nicht mehr als ein Witz ist, bei dem er nur gähnen, feixen und sich kratzen kann.

Kickl hat zahlreiche Slogans der FPÖ erfunden, darunter volkstümliche Reime wie: "Daham statt Islam". Sein politisches Mundwerk hat er einst bei Jörg Haider gelernt, der den sprachschöpferischen Witz, über den er unbestreitbar verfügte, gerne ins Ruchlose kippen ließ. Auf die Verrohung der politischen Sprache hat in Österreich die FPÖ nicht den alleinigen Besitzanspruch, auch wenn viele ihrer Abgeordneten sich hämisch entschlossen zeigen, ihn stets aufs Neue zu erheben.

Das zeigt Wirkung selbst bei jenen, die den permanenten Wettkampf, die Regelverletzung von gestern mit der ärgeren von heute zu überbieten, für schändlich und schädlich halten - aber mutlos fürchten, mit vernünftigen Argumenten in der von ihnen unterschätzten Bevölkerung kein Gehör mehr zu finden. Wie die FPÖ die anderen Parteien über drei Jahrzehnte lang mit immer neuen, immer schärferen Kampagnen vor sich hertrieb, folgen ihr diese nun auch darin, die Dinge simpler zu sagen, die Kritik platter zu formulieren und endlich auf moderate Weise das zu verlangen, was die Freiheitlichen schon lange rabiat gefordert haben. Sie erliegen dabei dem unentschuldbaren Irrtum, dass sich Aufklärung heute nur mit den Mitteln und Methoden der Gegenaufklärung betreiben lasse; dass man der Bevölkerung also dumm kommen müsse, um sie klüger zu machen. Wer dabei der Dumme ist, erweist sich von einer Wahl zur nächsten, in Österreich und anderswo.

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Quelle:
SZ vom 22.09.2018
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