Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Verstörung

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Warum wurde das Spiel von Borussia Dortmund am Tag nach dem Terroranschlag nachgeholt? Von den Opfern wurde verlangt, ihren Schock zu leugnen.

Von Carolin Emcke

Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen", schrieb Theodor W. Adorno 1951 in der "Minima Moralia", den "Reflexionen aus dem beschädigten Leben", wie der Untertitel lautet. Was sich bei Adorno noch auf den Krieg bezog, lässt sich auch über das gegenwärtige Leben mit der Gewalt sagen. Berlin, London, Stockholm und nun Dortmund - die Anschläge treten inzwischen mit solcher Häufigkeit auf, dass sie sich in eine zeitlose Folge von Schocks zu verwandeln drohen. Wenn sich der Abstand zwischen einem brutalen Ereignis und dem nächsten verringert, wenn sich die Zeit fürs Nachdenken über das Geschehene verkürzt, klafft bloße Ohnmacht in den Zwischenräumen. Es beschädigt jenes Intervall, in dem der Schrecken der Gewalt überhaupt als Erfahrung erfasst und nicht zuletzt betrauert werden kann.

Eine Gewalt, die nicht mehr schockieren darf, verliert ihren tabuisierten Status

Noch finsterer wird es allerdings, wenn der Schock nicht einmal zugelassen, sondern unterdrückt wird. Wenn von Individuen oder einer Gesellschaft verlangt wird, sie möge unberührt bleiben und sich nicht beeindrucken lassen durch den Einbruch der Gewalt. Wenn der Raum, in dem die moralische oder psychische Erschütterung gezeigt werden darf, immer enger wird. Die Gründe mögen vordergründig einleuchten: Natürlich, niemand möchte dem kriminellen Terror bloß erliegen. Niemand möchte sich lähmen oder verkrümmen lassen. Niemand möchte den anonymen Tätern den Triumph gönnen, mit ihrer Gewalt unsere Schutzschicht aus Zuversicht und Vertrauen zu perforieren.

In diesem Sinne wiederholten auch die Stimmen nach dem Anschlag von Dortmund umgehend die autosuggestive Losung: Die Erlebnisse könnten die Betroffenen "wegstecken". Es müsse ein "Zeichen" gesetzt, die "Demokratie und freiheitliche Grundordnung gestärkt" werden, niemand dürfe sich "einschüchtern lassen" - dann hätten "die Terroristen schon gewonnen". Der Aufruf zur Normalität im Angesicht der Anomalie ist ein fragwürdiger Reflex, in dem als Verteidigung demokratischer Werte ausgegeben wird, was früher einmal Taktlosigkeit geheißen hätte.

Es ist eines, wenn Menschen, die verschont wurden, der Angst und dem Schock widerstehen können, oder wenn direkt Betroffene sich selbst eine Form von Normalität und Vertrauen (zurück-)erobern wollen. Etwas ganz anderes ist es, wenn Normalität und Vertrauen im Angesicht von Terror von oben herab angeordnet werden. Diese ritualisierte Pflicht zur Kontinuität meint, den Schmerz der Opfer, der einer Gewalterfahrung folgt, einfach überspringen zu können. Die Spieler von Borussia Dortmund wurden nicht nur zum Spielen genötigt - 24 Stunden nach dem Anschlag auf ihr Leben. Der eilige Auftrag zum Weitermachen wurde auch noch aufgeladen mit simulierter Moral. So als sei individuelle oder kollektive Trauer eine undemokratische Verweigerungshaltung. Als sei unprofessionell, wer innehalten, reflektieren oder auch nur schockiert sein will. Als sei ethisch verantwortungslos, wem der Schreck über die Wucht der Detonationen anzumerken war. Wer von den Spielern hatte da noch eine Wahl? Wer war da frei zu sagen: Ich kann oder will nicht?

Es war ein gespenstisches Spektakel: Um unbedingte Normalität zu behaupten, wurde ausgerechnet den Opfern aufgebürdet, ihre schreckliche Erfahrung zu verleugnen. Ob dieses Fußballspiel am Ende gewonnen oder verloren wurde, spielt für die Brutalität dieser Entscheidung keine Rolle. Es geht auch nicht darum, ob es faire Bedingungen waren, unter denen die Spieler antreten mussten. Es geht darum, dass nach einem solchen Anschlag jeder Wettbewerb schlicht obszön geworden war. Auch ein Sieg hätte keinen Triumph bedeutet. Worüber auch? Was wäre damit bewiesen worden? Dass die Erfahrung nicht so tief greifend gewesen sein kann? Dass sich jedes Trauma mit ein bisschen Willen schon überwinden lässt? Selbst als Borussia-Fan ließ sich nicht entscheiden, welcher Ausgang einen widerlicheren Beigeschmack gehabt hätte. Das Spiel wurde gekidnappt für eine Geste.

Es wäre weniger fahrlässig gewesen, hätte die Europäische Fußball-Vereinigung (Uefa) die ganze symbolische Luft aus der Rhetorik gelassen und einfach erklärt, der Verband könne sich Rücksicht auf den Schock der Spieler aus logistischen und ökonomischen Gründen nicht leisten. Die Mechanik der internationalen Fußballvermarktung lasse respektvollen Umgang miteinander nun einmal nicht zu. Basta. Ohne jede Ambition zur normativen Maskerade wäre der Vorgang in seiner ehrlichen Schamlosigkeit rücksichtsvoller gewesen.

Gerade das Entsetzen, das die Gewalt nicht einfach normalisiert sehen will, kennzeichnet die moralischen Intuitionen einer Person. Es ist die mindestens vorübergehende Verstörung, in der eine Person oder eine Gesellschaft zeigt, dass sie sich nicht arrangieren will mit der Gewalt. Es sind die Unterbrechung des Alltags, das mindestens kurzfristige Aussetzen aller Pläne, die signalisieren: Es ist etwas Inakzeptables geschehen. Eine Gesellschaft, die sich selbst zu wappnen glaubt, in dem sie sich unverwundbar gibt, kannibalisiert eben jene moralische Empfindsamkeit, die zu stärken sie vorgibt. Eine Demokratie, die sich immun behauptet, verkennt ihr eigenes humanes Fundament.

Vielleicht besteht darin die eigentliche Gefahr: Eine Gewalt, die nicht mehr schockieren darf, eine Gewalt, die gewöhnlich zu sein hat, verliert auch ihren tabuisierten Status. Das wäre eine fatale Wirkung: wenn der instinkt- und taktlose Gestus gegen Gewalt unfreiwillig zu ihrer Banalisierung beitrüge. Als seien Gewalt und Terror nichts als naheliegende Formen der Konfliktbewältigung. Das wäre vermutlich genau das, was sich Terroristen wünschen, dass wir es glauben. Stattdessen braucht es mehr Vertrauen in die Stabilität der Demokratie: Sie verkraftet es auch, wenn sie sich verwundbar zeigt. Sich als Gesellschaft die Zeit zum Innehalten und Trauern zu nehmen, ist kein Zeichen von Ohnmacht, sondern von Zivilität.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2017
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