Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Schibboleth

Die deutsche Gesellschaft darf nicht zulassen, dass rechte Populisten definieren, wer ihr angehören kann und wer nicht. Ein moralisches Vakuum, das die Politik erzeugt, wäre gefährlich.

Von Carolin Emcke

Und die Gileaditer besetzten die Furten des Jordans vor Ephraim", so beginnt die Erzählung aus dem Buch der Richter im jüdischen Tanach (und im christlichen Alten Testament). "Und wenn einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist Du ein Ephraimiter? Wenn er denn antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibboleth. Sprach er aber: Sibboleth, weil er's nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans." (Buch der Richter 12, 5-6) Es ist ein einzelnes Wort, das die einen von den anderen trennt. Am Schibboleth (hebräisch für "Getreideähre") lässt sich festmachen, wer dazu gehören darf und wer nicht. Wer es richtig auszusprechen weiß, der ist ein Freund, ein Gileaditer, wer nicht, der ist ein Fremder aus Ephraim und ein Feind. Das eine Wort markiert die Parole, die Unterscheidung in jene, die es zu beschützen, und jene, die es zu ergreifen und zu erschlagen gilt.

Wer das Erkennungswort nicht richtig aussprach, der wurde erschlagen

Die alte Geschichte aus dem Buch der Richter ist aktueller denn je, denn sie erzählt nicht allein von regionalen Eigenheiten der Aussprache, sondern von der Art und Weise, wie eine Gruppe bestimmt, wer aufgenommen und wer abgewiesen werden darf. Sie verweist auf die sozialen, kulturellen, ästhetischen Codes, die erfunden oder eingesetzt werden, um den Zugang zu einer Gemeinschaft zu regulieren. Was also, lässt sich fragen, wäre ein solches Schibboleth heute? Wie definiert sich gegenwärtig, was diese Gesellschaft ausmacht, wer sich als zugehörig zählen darf und wer nicht? Wie werden Freund und Feind ermittelt? Wie diejenigen begrüßt, die heute bitten "Lass mich hinüber"?

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vergangener Woche wurden im Hauseingang einer geplanten Flüchtlingsunterkunft im mittelhessischen Mengerskirchen zwei Schweineköpfe deponiert. Um das Haus herum legten unbekannte Täter Schweineschwänze und -innereien ab und hinterließen auf der Fassade und einem Fenster verschiedene Schriftzüge, unter anderem "Go home". Der Vorfall wurde erst spät bekannt, weil beim Verschicken der Meldung, wie ein Sprecher der Polizei es ausdrückte, "etwas schiefgelaufen" sei und der Verteiler nur wenige lokale Medien informierte. In Meißen, etwas mehr als zwanzig Kilometer von Dresden entfernt, wurde kurz zuvor ein Brandanschlag verübt auf ein frisch saniertes Haus, in dem 32 Asylbewerber untergebracht werden sollten. Und im sächsischen Freital, direkt vor Dresden, kommt es seit Monaten nun schon zu Protesten und Ausschreitungen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in einem Hotel, das als Erstaufnahmeeinrichtung dient. Die verängstigten Bewohner des Heims sehen sich Woche für Woche aggressiven Massen gegenüber, die gegen "kriminelle Ausländer" und "Kanaken" hetzen und jene Anwohner als "Zecken" verunglimpfen, die sich trauen, das Recht auf Asyl verteidigen.

Dies sind keine Ausnahmen mehr. Der gerade erst in Berlin vorgestellte Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz weist eine eklatante Steigerung rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Deutschland aus. Die Zahl der gegen Asylbewerber-Unterkünfte gerichteten Straftaten hat sich von 55 im Jahr 2013 auf 170 im vergangenen Jahr erhöht. Allein im laufenden Jahr 2015 wurden bereits 150 solcher Delikte registriert. Innenminister Thomas de Maizière erklärte: "Hass und Gewalt gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland sind beschämend."

Zu lange schon ist der rhetorische Karneval des menschenverachtenden Mobs medial und politisch geduldet worden: Da wurde verharmlosend als "Wutbürger" deklariert, wer nur unbürgerlichen Hass zu artikulieren wusste. Da wurden fremdenfeindliche Ressentiments umgedeutet in "Sorge, die es ernst zu nehmen" gelte, und präzis konturierte rechtsextreme Motive als unscharfe "Politikverdrossenheit" verniedlicht. Wo aus wahltaktischen Überlegungen heraus die Rechte von Asylbewerbern lieber angezweifelt als vertreten werden, wo die Motive von Geflüchteten eher delegitimiert als verstanden werden, nisten sich schnell rechte Populisten in jenem moralischen Vakuum ein, das die Politik absichtlich oder unabsichtlich erzeugt hat.

Rechte Populisten wollen bestimmen, wer zu dieser Gesellschaft gehören darf und wer nicht, sie wollen die Codes definieren, die "uns" von "denen" unterscheiden. Nichts ist zu kleinlich oder zu widerlich, als dass es nicht als Marker einer Identität taugte, die sich vornehmlich biologistisch abgrenzen will: "Weihnachtslieder singen" und "Stollen backen" können, "Schweinefleisch auf den Grill" legen und "keinen Kriegsschuld-Kult" oder "Gender-Wahn" zelebrieren - das sind die verklausulierten Schablonen, die kaum maskieren, was sie meinen: Wer jüdisch oder muslimisch glaubt, wer schwul oder lesbisch liebt, wer sich nicht gleichgültig zeigt gegenüber den Verbrechen der Vergangenheit, wer sich hilfsbereit für Flüchtlinge engagiert - soll nicht dazugehören.

Sie wollen die deutsche Staatsangehörigkeit mit all ihren Privilegien, dem Schutz des Rechtsstaats, der wohlfahrtsstaatlichen Solidarität, dem öffentlichen Bildungswesen und der Kultur? Die ist nicht zu haben ohne eine reflektierte, trauernde Erinnerung an die Shoah. Nicht, weil sich alle persönlich schuldig gemacht hätten, sondern weil es die ethisch-politische Grundierung dieser Republik ist, sich gewahr zu bleiben, aus welcher Finsternis diese Gesellschaft hervorgegangen ist. Sie wollen die Rechte des demokratischen Rechtsstaats, ohne diese Rechte auch anderen zu gewähren? Das ist letztlich nichts anderes als ebenjenes Demokratie-Schmarotzertum, das sie anderen gerne unterstellen. Das "Schibboleth" dieser Gesellschaft spricht nicht allein richtig aus, wer weiß ist oder christlich oder einen hiesigen Pass besitzt. Das "Schibboleth" spricht, wer das Grundgesetz respektiert, den säkularen, demokratischen Rechtsstaat anerkennt und wer auch die Würde derer verteidigt, die anders aussehen, anders glauben oder anders lieben.

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Quelle:
SZ vom 11.07.2015
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