Weihnachten:Ein Ritual, das uns zusammenhält

Ausstellung zu Weihnachtskrippen aus 90 Ländern

Weihnachten ist wie ein Lagerfeuer, das nicht herunterbrennt. Es ist das Fest der Wiederholung der Wiederholung. Im Bild ein afrikanisches Krippenspiel.

(Foto: dpa)

"Es begab sich": Warum nicht nur Weihnachten, sondern auch die Demokratie die Inszenierung und die Wiederholung braucht.

Kolumne von Heribert Prantl

Krippenspiele sind possierlich, sie sind kindlich, aber nicht kindisch. Es sind Aufführungen von der Geburt des Jesuskindes, in denen die eigentliche Geburt aber ausgespart bleibt. Sie ist in keinem dieser Stücke zu sehen; die Schmerzensschreie der Mutter sind in keinem zu hören. Von himmlischen Heerscharen und himmlischer Herrschaft ist die Rede, aber die Macht ist niedlich und kommt im Engelskleidchen daher. Um die Zukunft eines weltlichen oder himmlischen Reiches geht es nicht. Es sind herzergreifende Momente. Aber es sind Spiele.

Das war vor 825 Jahren, das war Weihnachten 1194 anders: Da wurde am 26. Dezember ein künftiger Kaiser vor aller Augen geboren. Es war eines der erregendsten Krippenspiele der Weltgeschichte. Es war Schauspiel und doch kein Spiel, es war real. Es ging um die Macht. Die Kaiserin war in vorgerücktem Alter, und es gab Gerüchte; man zweifelte an ihrer Schwangerschaft; sie habe sich schwanger gestellt: Die Kinderlose wolle dem Reich, neun Jahre nach der Eheschließung mit dem Kaiser, ein fremdes Kind unterschieben, um die Erbfolge zu sichern und die Macht des staufischen Geschlechts zu erhalten.

Da ließ die Kaiserin Constanze auf dem Marktplatz von Jesi in der italienischen Provinz Ancona ein Zelt aufschlagen, um dort öffentlich zu gebären. Der Historiker Pandolfo Collenuccio beschreibt das im 15. Jahrhundert so: "In dieses Zelt begab sie sich zur Stunde der Entbindung und wünschte, dass es allen Baronen und Adligen, Männern und Frauen, erlaubt sei, herbeizukommen und sie gebären zu sehen." Der Kaiserin ging es um Machterhalt, um die Legitimation der Dynastie. Alsbald nach dem Abnabeln wankte Constanze, einer schamlosen Maria lactans gleich, aus dem Zelt und präsentierte den Gaffern ihre vollen Brüste - um ein den Staat gefährdendes Gerücht zu stillen.

Der Mensch, der da öffentlich geboren wurde, war der Stauferkaiser Friedrich II., der Mann, den schon seine Zeitgenossen "stupor mundi" nannten, also einen, der die Welt in Staunen versetzt. Nietzsche sagte über ihn, er sei der erste Europäer nach seinem Geschmack gewesen. Ohne das Krippenspiel seiner Mutter wäre er es nicht geworden. Das heißt: Nicht nur himmlische, auch weltliche Herrschaft, profane Politik, ziviles Zusammenleben überhaupt brauchen Inszenierung, immer wieder; sie brauchen das, was man gemeinhin ins Reich der Religion verweist: öffentliche Aufführung, Ritual, Liturgie.

Das Fest ist eine Bühne, auf der Liebe, Friede und Freude aufgeführt werden

Weihnachten ist eine noch viel nachhaltigere Inszenierung als diejenige der Kaiserin - nicht nur wegen seines grandiosen Narrativs, dass der Herr des Himmels und der Erde ärmlichst geboren wird, nicht vor Baronen und Adligen, sondern vor schmutzigen Hirten. Weihnachten ist auch deswegen eine nachhaltigere Inszenierung, weil die Geburt des Jesus überall aufgeführt wird, nicht nur einmal, sondern seit vielen Jahrhunderten jedes Jahr. Wenn man die Frauen zusammenzählt, die schon einmal als Maria den Heiland zur Welt gebracht haben, und die Männer, die als Josef an die Tür zur Herberge geklopft haben: Es sind Millionen, die sich daran zumeist bis an ihr Lebensende erinnern als einen der unvergesslichen Momente in ihrem Leben.

Weihnachten ist wie ein Lagerfeuer, das nicht herunterbrennt. Es ist das Fest der Wiederholung der Wiederholung. Die Weihnachtsgeschichte ändert sich nicht, darf sich nicht ändern, muss genau so beginnen: "Es begab sich aber." Selbst hartgesottene Atheisten beteiligen sich am Weihnachtsritual. Auch wenn man mit Kirche und Glauben abgeschlossen hat, geht man zum Heiligabend-Gottesdienst, erliegt dabei womöglich, wenn auch widerwillig, dem Zauber der Erzählung. Auch die Inszenierung in den Familien ist von hartnäckiger Beständigkeit; was für ein Frevel, wenn es anderes Geschirr oder Essen gibt! Weihnachten ist inszenierte Erinnerung und nicht selten die inszenierte Flucht vor der Erinnerung. Auch wenn man auf die Malediven fliegt, man entflieht ihr nicht.

Die Gesellschaft ist dabei, sich von Ritualen zu verabschieden. Anstelle der Inszenierung verlangt man Authentizität, anstelle des Rituals Echtheit. Neue Aufregung und neuer Reiz sind angeblich besser als Ruhe: Wiederholungen werden ersetzt durch Serien, Feste durch Events, Gefühle durch Affekte, wie der Philosoph Byung-Chul Han beobachtet. Man misstraut der wiedererkennbaren Form; man klagt sie an, sie sei falsch, unaufrichtig und unfrei. Das ist fatal. Es schadet dem Zusammenleben. Demokratie unterscheidet sich von Demagogie nicht dadurch, dass sie auf Aufführungen verzichtet. Demagogie ist nicht Demagogie, weil sie Fackelzüge veranstaltet und Aufmärsche zelebriert. Sie ist Demagogie, weil die Fackeln in die falsche Richtung leuchten und die Aufmärsche den falschen Parolen hinterhermarschieren. Gewiss: Hass und Lüge haben manche Rituale so verdorben, dass man sie entsorgen muss. Aber Rituale als solche sind deshalb kein Müll; sie sind Lebensmittel. Sie schaffen das, was im Wort Religion steckt: "religare" und "relegere". Anbindung und Beachtung, davon leben Demokratie und gute Gemeinschaft.

Weihnachten ist eine Bühne, auf der Liebe, Friede und Freude aufgeführt werden; es hilft vielen in diesen Tagen, sich tatsächlich liebevoller und freundlicher aufzuführen als sonst; trotz aller Verlogenheit und aller Familiendramen, die es gibt. In der Politik heißt das Diplomatie. Diplomatieverachtung ist keine Aufrichtigkeit, sondern ein Freifahrtschein für Verachtung.

"Es begab sich": Dieser immer gleiche Satz aus der Weihnachtsgeschichte erzählt zuerst das immer gleiche Herrschaftsritual: Der Mächtige gibt ein Gebot aus, alle Welt gehorcht. Kaiser Augustus setzt die ganze Welt in Bewegung. Aber zugleich beginnt eine Gegengeschichte, die von kleinen Leuten erzählt, von Maria und Josef. Der Zählbefehl des Augustus wird von Engeln durchlöchert; die Volkszählungsgeschichte wird zum Beginn einer Befreiungsgeschichte, die den neuen Himmel und die neue Erde in Aussicht stellt. Sie hat die Botschaft: Nicht ein Kaiser ist höchstes Wesen, sondern ein Mensch, der ohne Obdach zur Welt kommt.

Es ist die Geschichte der großen Umkehrung. "Es begab sich": Der berühmteste aller Anfänge ist ein Befreiungsfanal. Er braucht Inszenierung und Wiederholung, um es immer wieder sein zu können.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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