Politisches Recht:Entfesselt die deutsche Justiz!

Catalonia's former leader Carles Puigdemont looks on as he leaves the prison in Neumuenster

Ein Routinevorgang, politisch aber hoch sensibel: Der katalanische Separatistenführer Carles Puigdemont wurde im Frühjahr 2018 wegen eines europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen.

(Foto: REUTERS)

Der EuGH watscht die deutschen Staatsanwaltschaften ab: Sie seien nicht ausreichend unabhängig von der Politik. Das Urteil ist hart, richtig und zukunftsweisend.

Kolumne von Heribert Prantl

Das Urteil ist ein Hammer. Der Europäische Gerichtshof hat den deutschen Staatsanwaltschaften verboten, EU-Haftbefehle auszustellen. Und dieses Urteil wirkt nicht nur in die Zukunft, es gilt auch für die Vergangenheit: Alle von den deutschen Staatsanwaltschaften schon ausgeschriebenen EU-Haftbefehle sind damit geplatzt, und das sind immerhin 5600; davon in Bayern 1600! Begründung: Die deutschen Staatsanwaltschaften seien nicht unabhängig, so wie vom europäischen Recht vorgeschrieben. Alle Europäischen Haftbefehle aus Deutschland müssen jetzt auf die Schnelle von einer wirklich unabhängigen Instanz, einem deutschen Richter, neu ausgestellt und dann wieder ins Schengen-System gegeben werden. Solange das nicht der Fall ist, stockt der Betrieb der deutschen Strafjustiz: Der in Paris festgenommene Betrüger aus München müsste dort erst wieder entlassen werden; und der Messerstecher aus Frankfurt, der sich in Belgien aufhält, wird vorläufig nicht nach Deutschland überstellt.

Es ist dies eine beschämende Geschichte. Die deutsche Staatsanwaltschaft, die sich viel zugutehält auf ihre effektive Strafverfolgung, kann nichts dafür; der deutsche Gesetzgeber hat ihr die Suppe eingebrockt: Die Gesetze, auf deren Grundlage Staatsanwaltschaften hierzulande arbeiten, sind steinalt; sie entsprechen seit Langem nicht mehr den EU-Standards. Stellung und innere Struktur der Staatsanwaltschaft werden im Gerichtsverfassungsgesetz definiert, nach Regeln, die das ehrwürdige Alter von 139 Jahren erreicht haben. Deswegen sind die uralten Bilder von der Staatsanwaltschaft noch immer beliebt: Sie sei die "Kavallerie der Justiz". Das stimmt auch in gewisser Weise: Eine zu Pferd kämpfende Truppe gab es noch, als die heute geltenden Arbeitsregeln für die Staatsanwaltschaft geschaffen wurden. Pferde liegen am Zügel; Staatsanwälte auch - sie sind extern und intern weisungsgebunden. Intern: an Weisungen des Behördenchefs. Extern: an Weisungen des Ministers.

Das Urteil gegen Deutschland ist ein Warnschuss in Richtung Ungarn und Polen

Vor allem Letzteres stört die europäischen Richter ungemein. Es stört auch schon seit Langem die Berufsvertretungen der Staatsanwälte, die auf ihren Tagungen gegen die Weisungsabhängigkeit von der Politik protestieren. Die Politik hat sich nicht darum geschert. Sie hat darauf verwiesen, dass es doch nur ganz selten solche Weisungen gebe. Das mag sein. Aber es sind dies immer die heiklen Verfahren. Sie ziehen sich durch die Geschichte der Republik - Strauß, Kohl, Wulff, Gysi, Edathy, Maas. Und wenn es angeblich Weisungen praktisch kaum gibt, dann hätte man die Weisungsabhängigkeit schon lang aus dem Gesetz streichen können. Man wird das jetzt tun müssen. Man wird die deutsche Staatsanwaltschaft so unabhängig konstruieren müssen, dass sie in Europa nicht wie ein Aussätziger dasteht - und zwar schnell.

Das politische Weisungsrecht gehört zu den Geburtsfehlern der deutschen Staatsanwaltschaft. Sie verdankt ihr Leben "dem Bedürfnis der Regierung, sich jederzeit Einfluss auf die Strafrechtspflege zu sichern". So schrieb die Juristenzeitung schon zur Weimarer Zeit. Dieser Einfluss kann sich auf verschiedene Weise äußern. Erstens: Es wird nicht ermittelt, wo ermittelt werden müsste. Zweitens: Es wird ermittelt, wo nicht ermittelt werden dürfte. Drittens: Es werden notwendige Ermittlungen wieder abgewürgt.

Eigentlich handelte es sich bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls um einen Routinevorgang. Der vom Richter ausgestellte nationale Haftbefehl wurde bisher hierzulande vom Staatsanwalt formularmäßig europaweit ausgeschrieben. Auch ein solcher Routinevorgang kann aber politisch hochsensibel sein - wie sich bei Carles Puigdemont gezeigt hat. Auf der Basis eines Europäischen Haftbefehls, den die spanische Justiz ausgestellt hatte, wurde der Separatistenführer 2018 auf der Durchreise von Finnland nach Belgien von deutschen Behörden in Schleswig-Holstein festgenommen. Nun beruht das ganze System des Europäischen Haftbefehls auf Vertrauen. Der EU-Staat, der eine gesuchte Person festnimmt und überstellt, geht davon aus, dass der andere Staat, der den Haftbefehl ausgestellt und die Überstellung des Gesuchten beantragt hat, die rechtsstaatlichen Regeln einhält. Wenn Zweifel daran wachsen, bricht die Geschäftsgrundlage für den EU-Haftbefehl zusammen.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen die deutsche Staatsanwaltschaft ist einen Tag nach der Europawahl verkündet worden. Das mag Zufall sein - aber es ist ein bezeichnender Zufall. Es gibt die Befürchtung, dass Staaten wie Ungarn oder Polen, die sich immer weiter von der Rechtsstaatlichkeit entfernen, den Europäischen Haftbefehl für politische Zwecke nutzen - und politische Gegner im Ausland festnehmen lassen. Insofern ist das Urteil gegen Deutschland ein präventives Urteil: Am deutschen Rechtsstaat wird ein Exempel statuiert, um massive Rechtsstaatsgefährder zu warnen. Aber gleichwohl hätte der EU-Gerichtshof das Exempel nicht statuieren können, wenn es im deutschen Recht nicht den Aufhänger dafür gäbe.

Der Aufhänger muss beseitigt werden. Und diese Aktion sollte auch Anlass sein, die Justizstrukturen in Deutschland zu reformieren. Die Abhängigkeit nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern der gesamten Justiz (hier betrifft sie den laufenden Verwaltungsbetrieb) von der Exekutive widerspricht der Gewaltenteilung. Unabhängigkeit verlangt Selbstverwaltung. Gerichte und Staatsanwaltschaften müssen nicht vom Ministerium verwaltet werden; das können sie auch selber. Unabhängigkeit verlangt die Entfesselung der Justiz.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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