Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Planen

Angesichts der Flüchtlingskrise hat sich ganz Europa auf die Suche nach einem "Plan" gemacht. Dahinter steht der Wunsch, die Wirklichkeit abzuschaffen.

Von Carolin Emcke

Den ganzen 25. August verbrachte Napoleon, wie seine Geschichtsschreiber erzählen, zu Pferd: Er nahm das Gelände in Augenschein, begutachtete die Pläne, die ihm seine Marschälle vorlegten, und erteilte seinen Generälen die Befehle persönlich." So beginnt Leo Tolstoi in seinem Roman "Krieg und Frieden" das Kapitel über die Schlacht von Borodino im Jahr 1812. Nachdem der als Militärgenie verehrte Kaiser das Gelände abgeritten und das Einrichten von zwei Batterien befohlen hatte, so erzählt es Tolstoi, kehrte er ins Quartier zurück und diktierte detailliert seine Direktiven für die Schlacht am folgenden Tag: Die Batterien sollten von den beiden von Napoleon bestimmten Positionen aus die russischen Befestigungen unter Beschuss legen; ein Teil der eigenen Truppe sollte sich durch den Wald auf das Dorf zubewegen und dabei die russische Flanke umgehen. Ein anderer Teil sollte durch den Wald vorrücken und sich der Befestigungen bemächtigen. Der französische Vizekönig schließlich sollte das Dorf Borodino einnehmen, über dessen drei Brücken marschieren und sich mit den anderen Divisionen später gemeinsam in die Front der übrigen Truppen eingliedern. Soweit der Plan.

Immer neue Konzepte werden entwickelt, die vor allem eines versprechen: Kontrolle

"Diese ziemlich unklare und verworrene Disposition (...) enthielt vier Punkte, vier Anordnungen", kommentiert Tolstoi so lakonisch wie vernichtend, "keine davon war auszuführen, keine ist ausgeführt worden." Der legendäre Feldherr hatte - nach Tolstois Version - in seiner Planung sowohl das Vorhersehbare als auch das Unvorhersehbare, die faktischen Gegebenheiten des Geländes und die möglichen Bewegungen des Feindes unzureichend kalkuliert. Die hundertzwei Geschütze der beiden Batterien konnten mit ihren Geschossen aus der von Napoleon festgelegten Position heraus die russischen Befestigungen gar nicht erreichen, sodass die Geschütze "so lange ins Leere schossen, bis ein in der Nähe befindlicher Kommandeur sie gegen den Befehl Napoleons vorrücken ließ".

Die Forderung nach "einem Plan" erlebt gegenwärtig eine bizarre Konjunktur. Sie wird lediglich noch durch die Forderung "nach einem Plan B" getoppt (so als beinhalte nicht jede halbwegs vernünftige Planung ohnehin verschiedene Exit- oder Alternativ-Strategien). Ein Plan soll her, ganz gleich wie vernünftig, etwas Stabiles, etwas, das Kontrolle suggeriert, etwas, das nach Souveränität klingt, das dieser Welt, die global einfach nicht so agiert wie lokal erwünscht, kurzerhand Einhalt gebietet. Ein Plan soll aufgestellt werden gegen diese verstörende Wirklichkeit, in der Menschen sich einfach entscheiden, vor Vergewaltigung oder vor dem Verrecken zu fliehen, und in der sie sich ausgerechnet übers Wasser, diese nur sehr schlecht abzusperrende Materie, auf den Weg machen. Weil der Krieg aber in Europa nur in Form derer sichtbar und spürbar wird, die vor ihm fliehen, richtet sich der Drang, die Wirklichkeit abzuschaffen, auf die Flüchtlinge. Um das empfundene Zuviel an Realität einzudämmen, ist in dieser Logik ein Plan nötig, wie die Flüchtlinge, die jetzt schon nur noch "Flüchtlingszahlen" heißen, reduziert werden können.

Und so werden mehr oder minder unklare und verworrene Konzepte entwickelt für Dinge, die nach Kontrolle anmuten: Außengrenzen, die ganz außen liegen, Außengrenzen, die irgendwie innen liegen, aber gegen ein Außen sichern sollen, Registrierzentren, aus denen die Menschen verteilt werden sollen auf Staaten, die sie nicht wollen und sich weigern, sie aufzunehmen, sodass aus "Hotspots" eher "Coldspots" werden, Zäune, die mehr ein- als ausschließen, weil das Innen immer kleiner wird, je mehr Länder sich gegeneinander abriegeln. Eine gigantische Illusionsmaschine ist in Europa in Gang gesetzt worden, die im Rückfall in Nationalstaatlichkeit eine Sicherheit verspricht, die diese in Zeiten der Globalisierung und wechselseitiger ökonomischer Abhängigkeit nicht wird garantieren können. Abschottung bedeutet keine Stabilität, Abschottung bedeutet nur Abschottung. Der Plan der Nationalisierung ähnelt schon jetzt den falsch postierten französischen Geschützen, die den Gegner nicht treffen können und nur ins Leere schießen.

"Wer den Gegner nicht kennt, aber nur sich selbst, wird das eine Mal siegen, das andere Mal unterliegen", schrieb der chinesische General und Philosoph Sunzi (um 544 - 496 vor Christus) in seiner berühmten "Kunst des Krieges" vor rund 2500 Jahren. "Wer aber weder den Gegner kennt noch sich selbst, der wird in jeder Schlacht unweigerlich geschlagen werden." Der Gegner der Europäer sind nicht die Flüchtlinge, es ist der Krieg, der ihre Heimat verwüstet. Und sie fliehen so lange, bis sie an einen Ort gelangen, der ihnen eine Chance verspricht auf ein Leben ohne Angst. Die Flüchtlinge, das hat Angela Merkel erkannt, sind nicht die Ursache, sondern die Folge eines Konflikts, der Europa herausfordert.

Gewiss stellen auch die Flüchtlinge die Aufnahmeländer vor gewaltige Aufgaben. Gewiss, es gibt eine ganze Ansammlung von überaus komplexen Fragen - nach den richtigen Strategien in der Wohnungs- oder Bildungspolitik, in der sozialen Förderung von denjenigen, die keine Arbeit finden. Aber das sind ohnehin Kernthemen gegenwärtiger Politik, die existenziell dringlich sind, auch jenseits derjenigen, die neu in diese Gesellschaften aufgenommen werden. Aber der eigentliche Gegner sind der furchtbare Krieg in Syrien und die tektonischen Machtverschiebungen und Gewaltspiralen, die in die ganze Region ausstrahlen. Der Gegner sind insofern auch all jene Staaten, die in diesem Krieg um ihren geopolitischen Status kämpfen und die sich das Gemetzel lediglich zunutze machen wollen - koste es an Menschenleben, was es wolle. Dieser Gegner aber lässt sich, leider, nicht schnell besiegen. So sehr wir uns das auch wünschen. Dafür sind zähe diplomatische Verhandlungen nötig, vermutlich unbequeme Kompromisse für alle - und Geduld. Wie schrieb der weise Stratege Sunzi? "Wer sich auf Kriegskunst versteht, unterwirft die Armeen, ohne Schlachten zu schlagen."

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Quelle:
SZ vom 20.02.2016
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