Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Pflicht

Darf man Recht brechen, um bürgerliche Rechte zu schützen? Edward Snowden hat diese Frage für sich bejaht. Es ist Zeit, dass er ein faires Verfahren bekommt.

Von Carolin Emcke

Ziviler Ungehorsam kann auf eine notwendige und wünschenswerte Veränderung oder auf die notwendige und wünschenswerte Erhaltung des Status quo ausgerichtet sein", schrieb die Philosophin Hannah Arendt 1970 in ihrem Aufsatz "Ziviler Ungehorsam", "auf die Erhaltung verfassungsmäßiger Rechte oder auf die Wiederherstellung des richtigen Machtgleichgewichts innerhalb des Regierungssystems." In der einen oder anderen Deutung passt diese Beschreibung sehr gut auf die Handlungen von Edward Snowden. Als der ehemalige Mitarbeiter der NSA im Jahr 2013 sein geheimes Wissen über die weltweiten Abhörpraktiken der amerikanischen und britischen Geheimdienste enthüllte, motivierte ihn nach eigener Auskunft ebendies: der notwendige Wunsch nach Veränderung und die notwendige Erhaltung verfassungsmäßiger Rechte. Was Snowden durch seinen aufklärerischen Akt kritisierte, waren die illegalen Auswüchse eines unkontrollierten Sicherheitsapparats, der die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die zu schützen er den Auftrag hat, missachtete. Es ging ihm insofern um beides: um den Erhalt der subjektiven Rechte des Einzelnen wie um die parlamentarische Wiederherstellung des Machtgleichgewichts innerhalb eines Regierungssystem - hier zwischen Regierung und den Geheimdiensten - das ganz offensichtlich aus den Fugen geraten war.

Der tiefe Glaube an die Verfassung lag Snowdens Akt zugrunde

Das ethische Dilemma von Edward Snowden bestand darin, das Recht individuell brechen zu müssen, um über globale Rechtsbrüche der Geheimdienste informieren zu können. Er fragte sich nicht, ob er das Recht habe, die rechtswidrigen Zustände bekannt zu machen, sondern ob er die Pflicht habe. Nicht die Missachtung des Rechtsstaats und seiner Gesetze motivierte Snowden, sondern die Wertschätzung des Rechtsstaats und seiner Gesetze. Nicht der Umsturz der Verfassung, nicht die Ablehnung des demokratischen Systems, nicht die ideologische Nähe zu Feinden der Vereinigten Staaten, sondern der tiefe Glaube an ebendiese Verfassung lagen Snowdens Akt zugrunde. Umgekehrt formuliert: Nur jemand mit einer zynischen, gleichgültigen Einstellung zu den verfassungsmässigen Rechten konnte an solchen Überwachungsprogrammen arbeiten, ohne damit zu hadern.

Snowden wollte allerdings nicht allein über die Legalität oder Legitimität des grenzenlosen Abschöpfens von Daten befinden. Im Sinne des bürgerlichen Ungehorsams ging es ihm um eine absichtsvolle Regelverletzung, die letztlich die Regierungen zur Korrektur illegaler und illegitimer Überwachungspraktiken auffordert. Der Adressat seiner Handlungen war die internationale Öffentlichkeit, die über die notwendigen Konsequenzen aus den Enthüllungen selbst demokratisch zu befinden habe. Deswegen wandte er sich mit seinem Material an die Filmemacherin Laura Poitras und den Journalisten Glenn Greenwald. "Es gibt einen ungeheuren Unterschied zwischen dem Kriminellen, der das Licht der Öffentlichkeit scheut", schrieb Hannah Arendt in demselben Aufsatz, "und dem zivilen Gehorsamsverweigerer, der in offener Herausforderung das Gesetz in seine Hände nimmt."

Trotzdem wird Edward Snowden nach wie vor angeklagt wie ein Schwerverbrecher. Noch immer wird ihm nach dem "Espionage Act" von 1917 der Diebstahl von Regierungseigentum, widerrechtliche Weitergabe militärischer Informationen und Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an Unbefugte vorgeworfen. Noch immer droht ihm im Falle einer Verurteilung eine Gefängnisstrafe von bis zu 30 Jahren. Noch immer sitzt Edward Snowden in Russland fest. Noch immer bietet ihm kein europäischer Staat Schutz vor Strafverfolgung, obgleich eine Resolution des Europaparlaments die Mitgliedstaaten dazu aufforderte, seinen Status als Menschenrechtsverteidiger anzuerkennen. Nun ließe sich argumentieren, eine subjektiv empfundene, hehre Absicht allein reiche nicht aus, um einen Gesetzesbruch zu rechtfertigen. Nicht jedes kriminelle Vergehen lässt sich nachträglich als ziviler Ungehorsam verklären. Es muss sich glaubhaft begründen lassen, dass ein größerer gesellschaftlicher Schaden abgewendet werden sollte oder konnte.

Daran kann im Fall Edward Snowden längst kein Zweifel mehr bestehen. Mit dem "USA Freedom Act" verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten im Juni 2015 ein Gesetz, mit dem erstmals seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die Macht der Geheimdienste wieder beschränkt wurde. Die Repräsentanten von Capitol Hill erkannten damit die Notwendigkeit, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger besser vor den Zugriffen der Sicherheitsbehörden zu schützen. Bereits der Entscheid eines Bundesgerichts hatte zuvor das ungenaue (und willkürliche) Abschöpfen von Telefondaten von Millionen Amerikanern für illegal erklärt. Wiederholt hat Edward Snowden zudem bekundet, in die USA zurückkehren und sich einem fairen Verfahren stellen zu wollen - aber die Betonung liegt hier auf "fair".

Selbst der ehemalige Generalstaatsanwalt Eric Holder zweifelt nicht an Edward Snowdens ethischer Motivation oder Glaubwürdigkeit. In einem Interview äußerte sich Holder diese Woche erstmals voller Anerkennung für das, was Snowden mit seiner Enthüllung bewirkt hat: Es ließe sich sicherlich diskutieren darüber, wie er vorgegangen sei, so Holder, aber er habe "der Gesellschaft einen Dienst erwiesen, indem er die Debatte und die Veränderungen, die seither gemacht wurden, angestoßen hat". Mit anderen Worten: Ohne Snowden wäre die Regierung weiterhin ahnungslos über die illegalen Praktiken ihrer Dienste und die Bürgerinnen und Bürger weiterhin schutzlos.

Es wäre noch schöner, wenn Eric Holder seine Wertschätzung für die Verdienste Edward Snowdens schon zu Zeiten formuliert hätte, da er noch das Amt des Justizsenators und Chefanklägers innehatte. Aber trotzdem bleibt die Aussage spektakulär, denn sie zeigt, wie sich endlich das historische Bewusstsein durchsetzt, dass die Vereinigten Staaten (und Europa) Edward Snowden zu Dank verpflichtet sind.

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SZ vom 04.06.2016
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