Kolumne:Nischenglück

Lesezeit: 3 min

(Foto: N/A)

Ein Dresdner Seniorenheim hat ein "Erinnerungszimmer" mit DDR-Waren eingerichtet. Das soll gegen Altersdemenz helfen. Ist das der einzige Grund?

Von Norbert Frei

Die Geschichte geistert seit Monaten durch die Medien, die internationale Boulevardpresse ist fasziniert: In einem Dresdner Altersheim, so heißt es, blühen Demenzkranke auf, seit sie, mit Ostmark in der Hand, in einer fiktiven, aber original bestückten HO-Kaufhalle ein paar vertraute Produkte aus der Warenwelt der DDR erstehen können. Gleich daneben (statt in einem eigenen Laden) ist ein Regal mit Sachen aus dem Intershop aufgebaut, doch das scheint die alten Menschen nicht zu verwirren. Im Gegenteil, sie quittieren es mit Schmunzeln, dass man für dieses noch deutlich kleinere, eben westlich-exklusive Angebot Devisen benötigt. Wie einst im richtigen Leben.

Die Idee für das "Erinnerungszimmer", in dem auch das offizielle Honecker-Porträt nicht fehlt (allerdings nicht an der Wand, sondern in einer Grabbelkiste), stammt letztlich von den Heimbewohnern selbst. Gunter Wolfram, dem Leiter der "Seniorenresidenz Alexa", war aufgefallen, wie exakt manche der Alten sich der komplizierten Mechanik des seinerzeit beliebten Motorrollers "Troll" erinnerten, den er eigentlich nur erworben hatte, um den Kinosaal des Heims zu schmücken. Daraufhin begann der jugendliche Mann, systematisch Artefakte aus dem ostdeutschen Alltag der Sechziger- und Siebzigerjahre zusammenzutragen: Küchenutensilien und Schrankwände ebenso wie Eierschachteln und Waschmittelpackungen. Inzwischen können die diensthabenden Ergotherapeutinnen mit ihren Alzheimer-Patienten ganze Nachmittage in einer untergegangenen Welt verbringen - und von verblüffenden Erfolgen berichten: "Viele essen wieder selbständig, Bettlägerige haben sich wieder aufgerafft."

Wem nun die wunderbare Filmkomödie "Good Bye Lenin!" in den Sinn kommt, der liegt nicht ganz falsch. Auch die Geschichte des eher unpolitischen Alex und seiner alleinerziehenden Mutter, einer verdienten Genossin, die kurz vor dem Mauerfall nach einem Herzinfarkt ins Koma fällt und erst wieder aufwacht, als der Kapitalismus in Ostberlin bereits eingezogen ist, lebt vom therapeutisch hilfreichen Aufruf vergangener Wirklichkeit: Die Spreewaldgurken, für die der liebevolle Sohn nur noch holländische Ersatzware auftreibt, die "Aktuelle Kamera" aus dem Videorekorder, für die er eigens Nachrichten erfindet - um die Mutter zu schonen, muss die gerade implodierte DDR erhalten bleiben.

Das markiert denn auch die Differenz zwischen dem deutsch-deutschen Kinoerfolg von 2003 und den Dresdner Senioren von heute: Auch die schon ein wenig eingeschränkten unter diesen wissen, dass es den Staat nicht mehr gibt, in den sie als Kinder der NS-Zeit hineingewachsen sind. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, verspüren sie Sehnsucht nach seiner Dingwelt - nach den Farben und Formen, nach den Gerüchen und Genüssen, die auch der Realsozialismus bereithielt. Und mit den Dingen wünschen sie die daran haftenden Erinnerungen zurück. An diesem Bedürfnis ändert die Tatsache nichts, dass selbst für die heute Achtzigjährigen schon mehr als ein Drittel ihres Lebens nach dem Ende der DDR datiert. Doch heißt das, dass diese Menschen nie in der Bundesrepublik angekommen sind?

Natürlich hat es die schräge Story aus dem Altersheim auch in die Bild-Zeitung geschafft, und deren Interpretation zielte genau in diese Richtung. Warum sonst hätte die Redaktion geglaubt, in einer launigen Überschrift "DDR" mit "Deutsche Demenz-Residenz" ausbuchstabieren zu sollen? Das Blatt demonstrierte damit nicht nur ein gerüttelt Maß an Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte - bei Springer hatte das Akronym des zweiten deutschen Staates jahrzehntelang nur mit Tüttelchen verwendet werden dürfen; die Vorschrift war ironischerweise just im Sommer 1989 gefallen -, sondern auch wenig Verständnis für seine ostdeutschen Leser.

Waren aus der Zeit vor dem Mauerfall bedeuten für viele ein Stück Selbstvergewisserung

Gewiss begann der Kult um Gurken aus dem Spreewald, um Rotkäppchen-Sekt und um Halloren-Kugeln aus der "ältesten Schokoladenfabrik Deutschlands" recht bald nach dem Ende der DDR, und vermutlich sprach daraus schon damals nicht bloß Nostalgie. Ein Vierteljahrhundert später allerdings ist unübersehbar, dass sich darin ein spezifischer Erinnerungsbedarf ausdrückt, der mit "Ostalgie" nur unzureichend beschrieben wäre: Weist er doch über den bekannten Umstand hinaus, wonach sich Menschen im Alter nur zu gern, im Zweifel mit Glanz in den Augen, ihrer Kindheit erinnern. Woran die sächsischen Senioren sich erfreuen, sind ja nicht die Dinge aus der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, sondern aus den prägenden Jahren ihres beruflichen Schaffens. Es sind die Produkte ihres Lebens und Arbeitens in der DDR der Sechziger- und Siebzigerjahre, aus einer Zeit also, in der fast alle an den Fortschritt glaubten und nicht wenige an die "Errungenschaften" einer sozialistischen Gesellschaft. Das meiste davon, sicherlich mehr als unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nötig, wurde nach 1990 plattgemacht. Insofern summt im Dresdner "Erinnerungszimmer" auch ein Stück Kapitalismuskritik - nicht anders als in den zahlreichen, oftmals privat geführten ostdeutschen Museen, in denen die DDR ihre warenästhetische Nische gefunden hat.

Im kleinen Glück der Wiederbegegnung mit vertrauten Gegenständen aus dem Leben vor dem Mauerfall steckt sicherlich ein bisschen Trotz, durchaus nach dem Motto: Es war nicht alles schlecht. Vor allem aber steckt darin ein starkes Moment der Selbstvergewisserung. Es geht dabei - mitnichten nur für die Dresdner Senioren - um die Dignität ihres vergangenen Alltags im Sozialismus. Die zeithistorische Forschung hat sich dieser Erfahrungen bis heute nicht angenommen, womöglich auch aus falscher Angst vor Apologie. Dabei müsste es gerade der Wissenschaft darum zu tun sein, genauer hinzusehen, um am Ende unterscheiden zu können: zwischen gleichsam anthropologischem Verlangen nach schönen Erinnerungen und politisch geschönter Vergangenheit, zwischen aufklärerischer Vergegenwärtigung und verklärender Instrumentalisierung. Letztere soll man dann auch so nennen.

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: