Kolumne:Neusprech

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Wie die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär Ban Ki Moon das grassierende Problem sexueller Gewalt bei UN-Friedensmissionen kleinreden.

Von Caroline Emcke

In seinem Roman "1984" beschreibt George Orwell, wie rhetorische Maskeraden sinistre Organisationen und ihre Taten verschleiern helfen. "Das Friedensministerium befasst sich mit Krieg, das Wahrheitsministerium mit Lügen, das Ministerium für Liebe mit Folterung und das Ministerium für Überfluss mit Einschränkungen." Ähnlich gespenstisch mutet es an, wenn die "Friedenstruppen" der Vereinten Nationen (UN), deren Name eigentlich Schutz vor Gewalt verheißt, ausgerechnet durch Missbrauch und Gewalt auffällig werden.

In einem diese Woche nur inoffiziell verbreiteten Bericht wird "sexuelle Ausbeutung und Missbrauch" (SEA) als das "größte Risiko für Friedensmissionen weltweit" bezeichnet. Ein Team von unabhängigen Experten und Expertinnen um Thelma Awori, Catherine Lutz und General Paban J. Thapa sollte im Auftrag des Generalsekretärs untersuchen, wie in verschiedenen Missionen der Vereinten Nationen das Problem des sexuellen Missbrauchs gehandhabt wird. Dazu wurden jene UN-Einsätze evaluiert, in denen die meisten Anschuldigungen von sexueller Ausbeutung und Missbrauch registriert worden waren, also im Kongo ("Monusco"), in Haiti ("Minustah"), Liberia ("Unmil") und im Südsudan ("Unmiss").

Blauhelme in Haiti und Liberia boten Nahrungsmittel im "Tausch" gegen Sex an

Die Geschichte der Friedensmissionen der Vereinten Nationen wird seit Jahren von Vorwürfen der sexuellen Gewalt begleitet. Im Jahr 2006 waren Blauhelme in Liberia und Haiti beschuldigt worden, die Hungersnot junger Mädchen ausgenutzt zu haben und sie - im "Tausch" gegen Nahrungsmittel - zu sexuellen Handlungen genötigt zu haben. Zwei Jahre später deckte die Kinderhilfsorganisation Save the Children auf, dass Angehörige der Friedenstruppen in der Elfenbeinküste, in Haiti und im Südsudan Kinder vergewaltigt hatten. Schon im Jahr 1996 war Unicef in einer Studie über sexuellen Missbrauch von Kindern in Kriegsgebieten zu dem erschütternden Ergebnis gekommen, dass "die Ankunft von Friedenstruppen" in sechs von zwölf untersuchten Ländern einen "rapiden Anstieg von Kinder-Prostitution" zur Folge gehabt habe.

Seit dem Jahr 2003 hatten die Vereinten Nationen wegen massiver Kritik einen eigenen Maßnahmenkatalog zum Schutz vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch verabschiedet. Die unabhängige Kommission um Awori, Lutz und Thapa sollte nun prüfen, wie erfolgreich die erklärte "Null-Toleranz-Politik" gegenüber sexueller Gewalt in den ersten zehn Jahren implementiert wurde. Der 30-seitige Abschlussbericht wurde Generalsekretär Ban Ki Moon bereits im November 2013 vorgelegt - und nie veröffentlicht.

Vergleicht man die Aussagen der unabhängigen Kommission mit denen Ban Ki Moons, versteht man, warum. In einem offiziellen Papier an den Sicherheitsrat vom 13. März verkündete der Chef der Vereinten Nationen gerade stolz, die absolute Zahl der gemeldeten Anschuldigungen sei "die niedrigste seit Einführung der Maßnahmen zum Schutz vor SEA".

Der offiziell nie freigegebene Bericht der Experten-Kommission dagegen hatte den Generalsekretär darüber informiert, dass die UN nicht einmal wüssten, wie ernst das Problem der SEA sei, weil "die offiziellen Zahlen nur verschleierten, wie viele nichtangezeigte Fälle es gibt". Als Gründe dafür nennt der Bericht, "Angst vor Stigmatisierung als Informant ("Whistleblower") und die Tatsache, dass Mitarbeiter der Vereinten Nationen in allen Einsätzen auf mehrere "sehr sichtbare Fälle von SEA verweisen konnten, die nicht gezählt oder untersucht wurden." Neben den üblichen Klassifikationen "begründete" und "unbegründete" Anschuldigungen, so die Experten, müsse die Kategorie "nicht ausreichend ermittelte" Fälle hinzugefügt werden.

Die beiden Dokumente parallel zu lesen, wirkt wie eine reale Unterweisung in jene fiktive Sprachpolitik, die George Orwell als "Neusprech" bezeichnet hat. Wenn Ban Ki Moon behauptet, dass die "Umsetzung der Null-Toleranz-Politik (. . .) eine absolute Priorität hat", fehlt nur noch "doppelplusgut", jener Superlativ aus Orwells "1984", um zu verklären, dass das Expertenteam eher Toleranz gegenüber Ausbeutung und Missbrauch und eine fatale Kultur der Straflosigkeit registriert hat. Wenn Ban Ki Moon nun sagt, "ein einzelner nachweisbarer Fall sexueller Ausbeutung oder sexuellen Missbrauchs (. . .) sei ein Fall zu viel", so heißt es im Bericht, es gebe eine Kultur des großen Respekts vor den Rechten des Beschuldigten, und wenig Respekt im Hinblick auf die Rechte der Opfer". "Straflosigkeit ist eher die Norm als die Ausnahme", resümieren die Experten in ihrem Bericht.

Es ist nicht sicher, was den Generalsekretär bewogen hat, die trostlose Wahrheit über die nach wie vor unzureichende Prävention und Bestrafung von sexuellem Missbrauch durch Friedenstruppen zu leugnen. Es ist kaum vorstellbar, dass Ban Ki Moon noch so wie General George S. Patton sexuelle Gewalt für ein gleichmütig hinzunehmendes Naturgesetz hält. Der amerikanische Truppenführer hatte während des Zweiten Weltkriegs lakonisch angemerkt, es werde im Krieg "zweifellos ein paar Vergewaltigungen geben".

In seinem schönen Essayband "Tagesrationen" erinnert der Publizist und Philosoph Jürgen Werner unter dem Stichwort "Fahrlässigkeit" an eine Formel Robert Musils, wonach "die sittliche Qualität einer Aktion sich ausrichtet weniger an dem, was einer tut, als an dem, was er danach tut". Zur moralischen Bewertung von Ereignissen gehöre demnach nicht allein, was beabsichtigt war, sondern auch "was nicht mehr beaufsichtigt wurde, obwohl dies geboten wäre".

Die UN müssen sich demnach nicht nur die Frage gefallen lassen, was sie tun, um zu verhindern, dass Frauen und Kinder sexuell ausgebeutet und missbraucht werden, sondern auch, was sie danach tun. Die Vergehen nicht zu verheimlichen, die Fakten nicht zu beschönigen und vor allem den Opfern größtmöglichen Schutz und Unterstützung zu garantieren, das wäre das Mindeste, was von den Vereinten Nationen erwartet werden kann.

© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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