Kolumne:Mut, Bürger!

Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse, 74, gebürgiger Breslauer, trat 1989 dem Neuen Forum, 1990 der SPD bei. Von 1998 bis 2005 war er Bundestagspräsident. Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Damit die Einheit gelingt, bedarf es nicht nur weiterer ökonomischer Anstrengungen für den deutschen Osten. Was noch viel wichtiger ist: Wir müssen an der freiheitlichen Demokratie arbeiten. Keinesfalls darf der Osten nach rechts wegdriften.

Von Wolfgang Thierse

Der diesjährige 3. Oktober ist kein rundes Vereinigungsjubiläum. Aber immerhin: Wir leben inzwischen länger wiedervereinigt im gemeinsamen Deutschland, als wir durch die Mauer (28 Jahre lang) getrennt waren. Ist also inzwischen die Wiedervereinigung vollendet? Unübersehbar: Nein! Wir haben - entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen - inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung vorgeschriebene "Herstellung gleicher Lebensverhältnisse" in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben.

Bei den wichtigsten ökonomischen Daten liegt der Osten trotz aller Fortschritte deutlich hinter dem Westen zurück, teilweise um 25 bis 40 Prozent. Das betrifft das BIP, die Arbeitsproduktivität, das deutlich niedrigere Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, die höhere Arbeitslosigkeit und das größere Armutsrisiko. Der ökonomisch-soziale Angleichungsprozess hat sich in den letzten Jahren extrem verlangsamt. Keiner kann vorhersagen, wie lange es noch dauern wird, bis wir das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse erreicht haben werden. Das irritiert und macht unzufrieden, weil es das durchaus ernüchternde Ergebnis von 28 Jahren erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung ist. Trotzdem: Das Gerede vom "Milliardengrab" Ost ist unangebracht. Und es ist beleidigend für die Ostdeutschen. Der ostdeutsche Vorwurf der Zurücksetzung und (absichtsvollen) Benachteiligung ist aber ebenso wenig gerechtfertigt.

Vieles ist ja erreicht, der Osten ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten, sondern inzwischen ein bunter Fleckenteppich von unterschiedlichen Erfolgen, Strukturstärken und Wirtschaftskräften von unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität. Görlitz ist (wieder) die schönste deutsche Stadt. Dresden, Leipzig, Jena, Berlin-Potsdam stehen nun wirklich sichtbar besser da als manche Region in Vorpommern, Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vermutlich noch weiter verschärfen, zumal es ja ähnliche Entwicklungen im Westen Deutschlands gibt, wenn man an das Stadt-Land-Gefälle denkt.

In den vergangenen 28 Jahren sind etwa vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert - das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht "Zurückgebliebenen". In der gleichen Zeit aber sind mehr als zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben (als Ost- und West-Deutsche), im Gegenteil.

Warum dann aber die gerade im Osten verbreitete Stimmung und das Klima der Enttäuschung und Verärgerung, der Wut auf die Demokratie und die Demokraten? Wir erleben nun auch bei uns in Deutschland, was sich ringsum in Europa zeigt: Die liberale, rechtsstaatliche Demokratie ist gefährdet. Der Aufbruch von 1989/90 muss nicht in den endgültigen Siegeszug der Demokratie münden, wie damals erhofft und prognostiziert. Das Beispiel unserer östlichen Nachbarn, vor allem Polens und Ungarns, macht sichtbar, wie groß und gefährlich die rechtspopulistischen Verführungen, das Wiedererstarken des Nationalismus, der Wunsch nach den einfachen und schnellen Lösungen, ja nach Erlösung von der Problemlast und der Zukunftsunsicherheit sein können. Um unserer liberalen Demokratie willen dürfen wir Ostdeutschland nicht nach rechts driften lassen!

Sind es die "Wendeverlierer", die in Chemnitz und Köthen auf die Straße gegangen sind? (Aber wir haben doch sehen können, wie viel westdeutsches Personal dort unterwegs war - auch eine Art Wiedervereinigung!) Was sich da zeigt, erklärt sich gewiss nicht nur aus ostdeutscher Vorgeschichte, ist ohnehin nicht nur ostdeutscher Natur. Aber es gibt doch eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten - nach der ostdeutschen Erfahrung eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie ideell-moralischer Art, nach der vielfachen Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder der Angst davor, dem so interpretierten Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen.

Die drei Jahrzehnte Wiedervereinigung waren auch ein schmerzlicher kultureller Prozess von Mentalitätsveränderungen, von zivilgesellschaftlichen Wandlungen, von übergroßen Hoffnungen und ihnen folgenden heftigen Enttäuschungen. Die deutsche Vereinigung war ja keine Vereinigung von Gleichen (und konnte es auch nicht sein), denn es kamen ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, abgelehntes System zusammen. Aus dieser Konstellation entstand kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Entstand die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Entstand die Bereitschaft, an Wunder zu glauben.

Und es entstand dann die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher - sichtbar in der größeren Wechselhaftigkeit der ostdeutschen Wähler: Erst adressierte man seine Hoffnungen und Erwartungen an die CDU, dann an die SPD, um dann seine Enttäuschung und Wut zur Linkspartei zu tragen. Und nun zur AfD?

Nach 28 Jahren ist zu begreifen, dass es nicht nur weiterer ökonomischer Anstrengungen bedarf, sondern auch der Demokratie-Arbeit, der emotionalen Arbeit und Verständigung, damit die Einheit gelingt. Es wird wohl viel länger dauern, als wir es uns vorgestellt und gewünscht haben. Das ist kein Grund für Wut und Empörung, meine ich, jedenfalls dann nicht, wenn immer wieder kleinere oder größere Fortschritte gelingen und sichtbar werden - in Sachen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft, der Einkommen, der sozialen Sicherheit, der menschlichen Annäherung und vielleicht gar der Lebenszufriedenheit und der Anerkennung unterschiedlicher Biografien!

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