Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Kafka

Europas Flüchtlingspolitik folgt einer paradoxen Dramaturgie: Die Tür bleibt offen - aber niemand kann sie mehr erreichen. Jetzt werden auch noch Hotspots in Libyen diskutiert.

Von Carolin Emcke

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz." So beginnt eine Erzählung von Franz Kafka aus dem Jahr 1914. Als der Türhüter dem Mann erläutert, dass er ihm jetzt keinen Zugang gestatten könne, fragt der Mann, ob er denn später eintreten dürfe. "Es ist möglich", sagt der Türhüter vage, "jetzt aber nicht." Es gibt keine erläuternden Gründe, warum der Bittsteller nicht eingelassen wird. Es gibt keine Aufgaben, die er als Vorbedingungen zu erledigen hätte. Der Mann wundert sich und wartet. Er wartet Tage, Wochen und Jahre. Wieder und wieder bittet er um Eintritt in das Gesetz, und wieder und wieder antwortet ihm der Türhüter, es sei "jetzt" nicht möglich. Der Zugang bleibt ein Versprechen, das aber nur in Zukunft, nicht in der Gegenwart eingelöst werden kann.

Lager in Libyen wären nicht nur ethisch fragwürdig, sie kämen einem Kamikaze-Einsatz gleich

Die politischen Versuche, das europäische Asylrecht aufrechtzuerhalten und es gleichzeitig auf Distanz zu halten, ähneln der paradoxen Dramaturgie dieser Erzählung. Asyl soll nach wie vor gelten als abstraktes Recht, nur zur konkreten Anwendung soll es seltener kommen. So wie der Türhüter die Möglichkeit des Zutritts gewährt, aber endlos in die Zukunft verlegt, so möchte Europa zwar prinzipiell seine Grenzen durchlässig für Verfolgte halten, aber die Grenzkontrollen für Flüchtlinge lieber in andere Regionen vorverlagern. Das Gesetz ist offen, nur gelangt niemand mehr bis zur Tür.

Schon das Flüchtlingsabkommen der EU mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vom März 2016 enthielt diese territoriale und moralische Verschiebung: Das Recht auf Asyl in Europa bleibt garantiert, allerdings beginnt Europa jetzt irgendwie jenseits von Europa - nämlich in der Türkei. Der Zugang ist nicht geschlossen, er wird nur in weite Fernen verlegt.

Seither sind deutlich weniger Menschen in der Ägäis ertrunken, und das ist ein Erfolg, den man nicht gering schätzen darf. Aber die Abwehr von Flüchtlingen wurde ausgerechnet einem Staat übertragen, aus dem gerade zahllose einheimische Akademikerinnen und Richter, Journalistinnen und Offiziere aus Angst vor staatlicher Verfolgung und Repression fliehen. Aus den Widersprüchen, die sich aus dem Outsourcing der Verantwortung ergeben haben, kann sich niemand mehr befreien. Die Türkei verfolgt und inhaftiert deutsche und türkische Menschenrechtler und Journalisten nach Belieben - und jede Kritik an fehlender Rechtsstaatlichkeit nimmt sich schal aus vor dem Hintergrund des nach wie vor geltenden Abkommens.

Nun hat der französische Präsident Emmanuel Macron vergangene Woche vorgeschlagen, sogenannte Hotspots in Libyen einzurichten: Auffanglager, in denen geprüft werden soll, wer eine Chance auf Asyl in Europa hätte und wer schon an der Reise über das Mittelmeer gehindert werden sollte. Macron begründete diese Vorverlagerung der Grenzkontrolle humanitär: Diejenigen, die Schutz oder auch nur ihr Glück in Europa suchen, sollen geschützt werden vor den tödlichen Gefahren, die sie dafür zu riskieren bereit sind - und vor der bitteren Enttäuschung, die sie in einem Europa, das sie nicht will, erwarten würde.

Gewiss, der elende Zirkel aus brutal kalkulierenden Schmuggler-Netzwerken, die den Tod der Flüchtlinge immer schon miteingepreist haben, und aus Seenot-Rettern in internationalen Gewässern, die am Rande der Erschöpfung gerade noch das Sterben verhindern, aber ein menschenwürdiges Leben hüben wie drüben nicht versprechen können - dieser Zirkel ist unerträglich. Alle, die gedankenreich und tatenarm zuschauen wie ich selbst, machen sich schuldig.

Aber: Libyen?

Ein Land, das über keine einheitliche Regierung verfügt, sondern in zwei Einflussgebiete im Westen und Osten des Landes aufgeteilt ist, die sich wiederum in kleinteilige Zonen und Stammesregime aufsplittern, in denen Milizen und marodierende Banden Angst und Schrecken verbreiten? Der Alltag in Libyen besteht, so beschreibt es der neueste Bericht von Human Rights Watch, aus "willkürlichen Verhaftungen, Folter, Mord, wahllosen Angriffen, Entführungen und 'Verschwinden-Lassen'." Das Justizwesen sei "dysfunktional" und gebe "keinerlei Aussicht" darauf, dass Verbrechen jemals geahndet würden. Wie viele Migranten in Libyen gestrandet sind, weiß niemand genau. Die Schätzungen reichen von 700 000 bis zu einer Million Menschen. Die Zustände in den offiziellen Lagern werden von Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International und dem UNHCR als katastrophal beschrieben: Folter, sexuelle Gewalt, Misshandlungen seien chronisch.

"Wir kamen, wir sahen, er starb", soll Hillary Clinton in einem ihrer wenigen unkontrollierten Momente herausgerutscht sein, als sie vom Tod des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi erfuhr. Seither herrschen vor allem Chaos und Gewalt in Libyen. Mit dem unübersetzbaren Begriff Shitshow bezeichnete Barack Obama den Militäreinsatz der Franzosen, Briten und Amerikaner und kritisierte scharf, wie Frankreich und England schlicht das Interesse verloren hätten an dem zerfallenden Staat. Im September 2016 urteilte das britische Foreign Affairs Select Committee über den Einsatz: David Camerons Intervention in Libyen sei "ohne vernünftige Geheimdienstinformation" durchgeführt worden. Der damalige Premierminister sei in das unangekündigte Ziel des Regime-wechsels "hineingeschlittert" und dann "der moralischen Verantwortung des Wiederaufbaus ausgewichen".

Es gibt keinen Staat, keine funktionierenden Behörden, keinen Rechtsstaat und keine Gesundheitsversorgung. Aber französische Beamte des Amtes für Flüchtlinge und Staatenlose (Ofra) sollen in "Registrierungszentren" in Libyen die rechtlichen Ansprüche von Flüchtlingen prüfen? Das wäre kein humanitärer Einsatz, das wäre defensiv-expansionistischer Aktionismus. Nicht allein ethisch fragwürdig, sondern wohl auch sicherheitspolitisch ein Kamikaze-Einsatz. Die Flüchtlingsfrage ist zu einer Art europäischem Familiengeheimnis geworden: Alle kennen es, allen ist es peinlich, aber keiner möchte ernsthaft und nachhaltig daran rühren, weil die eigenen Versäumnisse und Verpflichtungen sichtbar würden. Es ist, als ob der Türhüter inzwischen weniger das Gesetz als nurmehr sich selbst schützte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3616358
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.08.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.