H ome is where one starts from", beginnt ein Vers des Dichters T. S. Eliot in der Sammlung "Four Quartetts" -"Heimat ist das, wovon man ausgeht". Eliot fährt fort: "Wenn wir älter werden, / wird die Welt immer fremder, verworrener das Gefüge." Dass die Welt fremder und das Gefüge verworrener würde, empfinden manche in diesen Tagen, die Geflüchteten wie diejenigen, zu denen sie kommen. Was aber "Heimat" ist oder sein könnte in einer Einwanderungsgesellschaft, wie sicher oder unsicher, wie offen oder geschlossen, das ist weniger gewiss. Heimat ist das, wovon man ausgeht. Wovon geht man denn aus? Die naheliegende, vielleicht auch besonders intuitive Antwort wäre: von dort, woher man kommt. Je nachdem, von wem man gefragt wird, fällt die Auskunft, woher man kommt, großflächiger oder kleinteiliger aus. Es kann "Europa" sein (wenn jemand aus Asien fragt) oder ein Land (wenn jemand aus Europa fragt), "Deutschland", "Frankreich", "Polen", aber je näher der oder die Fragende einem rückt, je länger das Gespräch dauert, desto präziser und auch individueller wird das, was als "Heimat" ausgegeben wird.
Heimat - das sind auch all die Geschichten, die wir uns erzählen
Das, woher man kommt, ist zunächst eine Gegend, bald schon nur noch ein Kirschgarten oder ein Olivenhain, es ist der Blick auf diese Häuser mit den Schieferdächern oder jene Zeche mit den rostigen Türmen. Das, woher man kommt, sind die Gerüche oder Geräusche, die sich mit dieser Landschaft verbinden: der Duft von frisch gemähtem Heu, das morgendliche Tuten der Schiffe auf dem Fluss bei Nebel, der Geschmack von Sand zwischen den Zähnen. Heimat, so verstanden, als ein Ort, der sich dingfest machen lässt, ist etwas, das man verlieren kann, etwas, das sich nicht mitnehmen lässt auf der Flucht, etwas, aus dem man vertrieben werden kann, nach dem man sich sehnt im Exil. Heimat, so verstanden, ist auch etwas, das zerstört werden kann.
Doch je länger das Gespräch über Heimat dauert, desto luftiger wird das, worüber gesprochen wird. Denn das, wovon man ausgeht, besteht eben nicht nur aus einer Landschaft oder einem Ort, zur Heimat gehören auch Rituale und Gewohnheiten, die einen Rhythmus vorgeben und das Denken strukturieren: Bei manchen verbindet sich der Freitag mit dem Anzünden der Kerzen und dem Segen, der über dem geflochtenen Brot gesprochen wird, bei anderen der Sonntag mit Kantaten von Bach. Manche denken beim 11. September zuerst an die Anschläge auf das World Trade Center in New York, andere denken bei demselben Datum an den Militärputsch in Chile und den Tod des Präsidenten Salvador Allende. Manche feiern Neujahr im März (Newroz), andere im September oder Oktober (Rosch Haschana) und alle zusammen dann noch einmal am 1. Januar. Für manche verbindet sich mit der Heimat auch das Bewusstsein der Verbrechen, die von ihr ausgingen, also auch das Gefühl der Scham. In einer Einwanderungsgesellschaft sind es verschiedene Verbrechen an verschiedenen Orten, an die man sich erinnert und die betrauert werden. Wenn das, wovon man ausgeht, kein Ort ist, wenn es Praktiken und Bedeutungen sind, die Heimat ausmachen, dann geht sie nicht leicht verloren, auch wenn man es sich wünschte. Dann haftet sie an einem, wohin man auch geht.
Das, "wovon man ausgeht", lässt sich allerdings auch anders deuten. "Von etwas ausgehen" verweist auch auf das, was einem gewiss, was einem vertraut ist. Heimat als das, wovon man ausgeht, kann demnach auch das sein, was nicht permanent hinterfragt werden muss oder wo man selbst nicht dauernd hinterfragt wird. Sich nicht verleugnen zu müssen, sich nicht verkleiden zu müssen, sich nicht verteidigen zu müssen, ja, in gewisser Hinsicht nicht auffallen zu müssen, das ist für viele marginalisierte und stigmatisierte Menschen eine Erfahrung von Heimat, die sie nicht dort finden, wo sie herkommen. Für die, die nicht der Norm entsprechen, für die, die verspottet oder gedemütigt, die kriminalisiert oder pathologisiert werden, für die, die wie Fremde im eigenen Land behandelt werden, ist Heimat nichts, was gegeben ist. Im positiven Sinne unwichtig oder unauffällig sein zu dürfen, ist allzu oft ein Privileg, das nur denen zuteil wird, die als zugehörig oder gleich anerkannt werden. Heimat, verstanden als Möglichkeit, frei und selbstbestimmt leben, glauben, lieben zu können, kann etwas sein, das nicht von Anfang an da ist, sondern zu dem man aufbrechen muss. Heimat kann etwas sein, das erst hergestellt werden muss, nicht allein, sondern mit anderen zusammen.
"Heimat", hat der amerikanische Soziologe Russell Hardin einmal gesagt, "ist der epistemologische Trost des Zuhauses." Heimat wäre keine Landschaft, keine Sprache, es wären auch keine Gewohnheiten allein (auch wenn das manche in diesen Tagen gerne hätten), sondern es wäre das in Narrative verpackte Wissen und Verstehen. Es wären all die Geschichten, die wir uns öffentlich oder privat erzählen, all jene Assoziationen, die bestimmte Zeilen oder Bilder oder Klänge in uns auslösen und die uns allein dadurch beruhigen, dass wir sie kennen. Heimat wären die schmerzlichen oder heiteren Geschichten, an die wir uns erinnern oder die wir erfinden, die wir weiterreichen von Generation zu Generation, nie ohne sie ein wenig zu verfälschen. Dazu gehören auch die Lücken in den Geschichten, die Tabus und das, was beschwiegen werden soll und nicht verdrängt werden kann. Eine solche Heimat als Kette von Assoziationen lässt sich ergänzen und erweitern durch erinnerte und erfundene Geschichten, durch die Bilder derer, die neu dazukommen.
Zuletzt ist Heimat womöglich wirklich nur das, wovon man ausgeht, das, womit sich beginnen, aber nicht enden lässt. Der Begriff der Heimat taugt nicht als rhetorisches Vehikel der Ausgrenzung, denn jede Heimat ist immer schon hybrid und dynamisch, sie verändert sich in jeder Geschichte, die über sie erzählt wird. Heimat gibt es nicht als Original und Fälschung, sie ist immer eine originale Fälschung, so wie das "Wir", das die Geschichte von der Heimat erzählt.