Kolumne:Gegenpressing

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Nach dem Sieg populistischer Anti-Europäer ist es höchste Zeit, die Demokratie- und Sozialdefizite der EU anzugehen.

Von Carolin Emcke

Der beste Spielmacher der Welt ist das Gegenpressing," sagte Jürgen Klopp, derzeit Trainer des FC Liverpool, einmal in einem Interview der Ruhr-Nachrichten. Damals coachte er noch Borussia Dortmund und beschrieb, wann und warum Gegenpressing nötig ist: "Jeder neigt dazu, nach einem Ballverlust zunächst die Schultern hängen zu lassen, auch die Mitspieler wollen meist noch diskutieren, warum man den Ball verloren hat." Im Fußball lassen sich, vereinfacht gesagt, zwei Spielphasen unterscheiden: eigener Ballbesitz und gegnerischer Ballbesitz. Entscheidend für das "Gegenpressing" sind die Umschaltphasen, also jene Momente bei Ballverlust, in denen eine Mannschaft sich umstellen muss vom eigenen auf den gegnerischen Ballbesitz.

Gegen- oder Konterpressing bedeutet, eben nicht die Schultern hängen zu lassen und zu diskutieren, keineswegs in eine defensive Grundordnung zurückzufallen, sondern umgehend die gegnerische Mannschaft anzugreifen, noch ehe diese sich offensiv formieren und organisieren kann. In gewisser Hinsicht liegt der taktische Vorzug des Gegenpressings also darin, den Gegner dadurch zu überfordern, dass die eigene Mannschaft in Angriffsformation bleibt, obgleich das nicht der Spielsituation entspricht.

Das Vakuum der politischen Unentschlossenheit haben die Nationalisten genutzt

Es ist politisches Gegenpressing, was jene, die Europa lieben, jetzt spielen müssen. Statt noch zu diskutieren, warum der Ball an die Anti-Europäer verloren ging oder wie es sein kann, dass nationalistisch-revanchistische Bewegungen und populistische Parteien mit autoritären, antiliberalen Gesellschaftsentwürfen am Zug sind. Statt die Schultern hängen zu lassen, während in Ungarn unter Viktor Orbán, in Polen unter der neuen Regierung von Beata Szydło und zunehmend auch in der Slowakei unter Robert Fico sich eine demokratisch gewählte Front gegen Europa formiert hat. Statt mutlos zuzuschauen wie Europa unter dem Druck sich ablösender Krisen desintegriert, braucht es mehr, als nur die Prinzipien zu verteidigen, zu denen sich die Europäer unter Artikel 2 des EU-Vertrages verpflichtet haben: "Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören."

Es reicht nicht mehr, sich auf die hehren europäischen Werte zu berufen, wenn zu viele nicht mehr erkennen, wofür sie stehen, wenn sie Freiheit und Gleichheit nicht mehr übersetzen können in Erfahrungen, wenn zu viele dem Versprechen auf Inklusion und Partizipation nicht mehr glauben, weil es sich nicht für alle Europäerinnen und Europäer gleichermaßen erfüllt hat. Das Amalgam aus berechtigter Enttäuschung und populistisch geschürtem Misstrauen lässt sich so wenig durch Verordnungen von oben abbauen wie sich das berüchtigte nation building von außen diktieren lässt. Die zerfranste Überzeugung, dass Europa einen transnationalen Horizont öffnet, der nicht nur größeren Schutz, sondern auch vielfältigere Versionen des Glücks bietet, muss wieder neu begründet und entwickelt werden.

Gegenpressing in Europa heißt nicht nur die Passwege der fremdenfeindlichen, anti-europäischen Bewegungen zuzustellen, sondern - um im Bild zu bleiben - sich auch nicht in eine defensive Formation zurückdrängen zu lassen. Gerade weil es nicht zur Spielsituation zu passen scheint, braucht es eine offensivere Ausrichtung für Europa. Jene, die für Europa einstehen wollen, dürfen die Kritik an Europa nicht den Anti-Europäern überlassen. Jene, die Europa lieben, dürfen dies nicht nur selbstgefällig behaupten, sie müssen ihr Europa auch selbstverständlich kritisieren. Und zwar nicht, weil Europa zu demokratisch und zu transparent wäre, sondern weil es nicht demokratisch und transparent genug ist.

Die Europäische Union ist immer noch ein widersprüchliches Gebilde aus unterschiedlichen Ebenen von Macht und Verantwortung, in dem die Frage der eigenen Staatlichkeit allzu lange eine ängstlich umgangene Leerstelle geblieben ist. Das Vakuum dieser politischen Unentschiedenheit, haben die nationalistischen Anti-Europäer genutzt. Dass Europa vielfach als bloß ökonomischer Vorteil missbraucht wird (als gäbe es nicht die an die Mitgliedschaft geknüpften Prinzipien aus Solidarität und Rechtsstaatlichkeit), hat auch damit zu tun, dass der europäische Integrationsprozess das Primat des Ökonomischen selbst etabliert hat. Die transnationale Währung wartet immer noch auf Strukturen post-nationaler Willensbildung, die die Politik der Europäischen Union demokratisch legitimieren könnte.

Vor lauter Krise fehlt in Europa das Nachdenken über Reformen. Im permanenten Ausnahmezustand hat sich der Modus des Moderierens von Konflikten verstetigt - ohne die Paradoxien im Kern der europäischen Verfasstheit aufzulösen. Dabei demonstrierte jede einzelne Krise die unvollständige politische Integration Europas immer wieder aufs Neue. Die soziale Verunsicherung, die die rechtspopulistischen Bewegungen auf Migranten umgeleitet haben, nimmt hier ihren Ausgang. Der grassierenden anti-liberalen Agitation und der zunehmenden Aushöhlung rechtsstaatlicher Ideale und Institutionen lässt sich nicht allein durch juristische Verfahren begegnen.

Vielmehr braucht es offene Debatten darüber, mit welchen Instrumenten und Initiativen sich Europa nicht nur kurzfristig retten, sondern so demokratisch erweitern lässt, das es langfristig für die Bürgerinnen und Bürger auch spürbar und überzeugend wird. Dazu wäre es dringend geboten, die vernachlässigte Frage einer europäischen Sozialpolitik wieder aufzunehmen. Die zunehmende Armut, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern, die von der Finanz- und Schuldenkrise und der nachfolgenden Konsolidierungspolitik am stärksten betroffen waren, gefährden ja nicht nur die individuelle Sicherheit der Einzelnen, sondern auch den sozialen Zusammenhalt des Ganzen. Neben dem demokratischen Defizit, ist es das soziale Defizit Europas, das korrigiert werden muss.

© SZ vom 09.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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