Kolumne:Gaffer

Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß, 65, ist österreichischer Schriftsteller und Essayist. Er lebt in Salzburg. Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Zuschauer von Katastrophen hat es immer gegeben, aber die digitale Aufrüstung macht Schaulustige heutzutage selbstbewusst und aggressiv.

Von Karl-Markus Gauß

Vor einigen Wochen ereignete sich in Wien ein Verkehrsunfall, den die Medien als "besonders tragisch" bezeichneten. Eine hochschwangere Frau mit ihrem zweijährigen Kind auf dem Arm war unachtsam auf die Straße getreten, als dort gerade die Straßenbahn vorbeidonnerte. Der Wagen schleuderte sie zu Boden, riss sie mit sich und kam erst nach Metern zu stehen. Dem rasch eingetroffenen Rettungswagen musste der Weg durch einen Pulk von Schaulustigen gebahnt werden, der sich rasch formiert hatte. Dann standen die Notfallärzte und Sanitäter vor der Aufgabe, drei Menschenleben zu retten: Schwerverletzt auch er, hat am Ende nur der kleine Bub überlebt.

Viele halten es für ihr staatsbürgerliches Recht, immer freien Blick zu haben

Während das Rettungsteam sich um die Frau kümmerte, die kurz vor der Entbindung stand, schwoll die Menge auf rund 250 Handy-Besitzer an. Und unter diesen wuchs das Bedürfnis, das Handy als Kamera zu benützen, sodass die ersten Mutigen die symbolische Absperrung der Polizei überwanden. Etliche Männer schoben die Polizisten, die dafür zu sorgen hatten, dass die Ärzte ungestört arbeiten konnten, beiseite, um einen interessierten Blick auf die Sterbende zu werfen und ein Bild aus nächster Nähe zu machen. Mehrmals dazu aufgefordert, weigerten sie sich, den erkämpften Platz freiwillig zu räumen. Im Gegenteil, sie beklagten, dass auf ihre Interessen so wenig Rücksicht genommen werde. Während das medizinische Team verzweifelt versuchte, die Mutter am Leben zu halten, entspann sich ein paar Meter entfernt ein lauter Streit, in dem die Zuschauer die Moral auf ihrer Seite wähnten und erregt behaupteten, für Freiheit und Demokratie einzustehen: "Wir sind hier nicht in der Türkei! Bei uns gibt es keine Zensur." Und: "Es ist mein Recht, mich zu informieren, wo ich will."

Die Frau starb im Krankenhaus, ihr Ungeborenes konnte auch durch einen Kaiserschnitt nicht mehr gerettet werden. Die Stimmung am Unfallort war aber aus einem anderen Grunde schlecht: Die Obrigkeit hatte den Leuten, die für kurze Frist alle Zwietracht vergaßen und sich wieder zum einigen Volk verbündeten, jenen Status verweigert, den sie begehrten: Zuschauer zu sein mit freiem Blick. Mehr noch: die sich die staatsbürgerliche Freiheit nehmen, alles, was sie sehen, auch mit ihren Smartphones aufzunehmen und mittels Klick digital zu verbreiten. Was immer ihnen politisch zugemutet und sozial über sie verhängt wird, nur höchst selten empören sie sich noch dagegen. Aber wer sie im digitalen Vollzug ihrer Existenz einschränkt und ihnen das Recht streitig macht, vom zuschauenden zum fotografierenden Gaffer zu werden, der wird sich wundern, wie viel unberechenbare Revolte in befriedeten Menschen steckt.

Keine Sorge, ehe diese Kolumne zum Lamento gerät, das wie von selbst kulturpessimistisch dahinsurrt, schalte ich einen Gang zurück. Die Schaulust ist keine neue Erscheinung, die vom akuten Verfall der Kultur zeugt, sondern eine anthropologische Konstante, die in der Geschichte der Menschheit immer ihre Rolle gespielt hat. In der Antike wurden Stadien für Zehntausende gebaut, die gut gelaunt beobachteten, wie Menschen von wilden Tieren zerrissen wurden; manchenorts wurde dem Publikum sogar zugebilligt, durch Bekundungen von Gefallen oder Missfallen plebiszitär über Leben und Tod der Gladiatoren zu entscheiden. In der frühen Neuzeit machten sich die Leute von weit her auf den Weg, wenn in der Kreisstadt eine Hexe verbrannt wurde oder der Henker mit dem Richtschwert ein Todesurteil vollstreckte. Immer wurden die Zuschauer durch das grausame Spektakel, das ihnen geboten wurde, zum Verbündeten der Herrschaft, die ihnen zugleich drastisch vor Augen führte, was auch mit ihnen geschehen könnte. In neuerer Zeit wiederum ist die Anziehungskraft von Unfällen so groß, dass sich ein Katastrophentourismus entwickelt hat, der die Leute verlockt, just dorthin zu fahren, wo gerade Häuser oder Brücken eingestürzt sind, Autos zertrümmert, Menschen getötet wurden. Kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht davon berichten würden, dass irgendwo die Gaffer so eifrig wie selbstbewusst die Bergungs- und Rettungsarbeiten behinderten und dabei offenbar von dem Verlangen getrieben wurden, ihre Anwesenheit am Ort des Schreckens zu dokumentieren und Bilder von diesem zu versenden. Das bringt den Zuschauer, der früher von der Obrigkeit gerufen wurde, dem letalen Schauspiel beizuwohnen, heute mit dieser in Konflikt. Früher war seine Anwesenheit erwünscht, weil er als Zuschauer zum Untertan erzogen wurde, heute stört er, denn die Obrigkeit will nicht mehr töten, sondern Leben retten.

Aber auch der Untertan, nicht nur die Obrigkeit hat sich in demokratischen Zeiten verändert. Der Untertan mag keiner mehr sein und sich nicht länger damit abfinden, in seinem schaurigen Vergnügen eingeschränkt, als Teil der Meute abgewiesen zu werden. Und da er, anders als die Schaulustigen von früher, technisch hochgerüstet und mit aller Welt verbunden ist, will und kann er seine Neugier wie seine Empörung in Echtzeit mit vielen teilen.

Wir lesen von den Gaffern und sind empört, angewidert, ratlos. Der Gaffer ist immer der andere, wir selbst sind allenfalls über das Fernsehen am weltweiten Überschuss von Katastrophen beteiligt. Und natürlich käme kein Konsument des medial verbreiteten Grauens auf die Idee, den Fernseher zu fotografieren, wenn dieser gerade besonders grauenvolle Bilder zeigt, und sich so nach und nach ein Album der schrecklichsten Fernsehbilder anzulegen.

Was tun? Es wird berichtet, dass selbst aggressive Gaffer das Fotografieren sofort einstellen, wenn sie selbst dabei fotografiert werden, also von Fotografierenden zu Fotografierten werden. Nimmt man noch die Videokameras dazu, mit denen der öffentliche Raum immer dichter bestückt wird, ergibt das ein merkwürdiges Phänomen: In der vollkommen ausfotografierten Gesellschaft haben wir es mit Schaulustigen zu tun, die dabei fotografiert werden, wie sie selbst fotografieren, ein Vorgang, der so konfliktträchtig ist, dass er sicherheitshalber von Videokameras dokumentiert wird.

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