Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Fragiler Friede

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Europa interessiert sich für die Menschen und Kultur Nord-Mazedoniens wenig. Das ist ein Fehler. Von dem stolzen kleinen Land ließe sich einiges lernen.

Von Karl-Markus Gauß

Der 1936 geborene, 2006 verstorbene Petre M. Andreevski ist einer der großen europäischen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Andreevski? Dass ihn bei uns kaum jemand kennt, braucht nicht zu verwundern, denn dieser Autor, der krude Schilderungen des bäuerlichen Alltags mit einem magischen Realismus voller Wunder und Verheißungen zu verbinden wusste, stammt aus einem der unbekanntesten Länder Europas, aus Mazedonien. Der Titel seines vor drei Jahren erstmals ins Deutsche übersetzten Romans "Die Quecke" führt ein hartnäckiges Unkraut im Titel, an dem die Gärtner verzweifeln, weil es sich, einmal ausgerissen, bald wieder zeigt und einfach nicht für immer beseitigen lässt. Mit der hartnäckigen Quecke hat Andreevski metaphorisch Mazedonien selbst gemeint, denn tatsächlich ist es ein Wunder - und für manche auch ein Ärgernis -, dass es dieses Land immer noch gibt.

Die Mazedonier hatten es nicht leicht in ihrer Geschichte. Über die Jahrhunderte lebten sie unter fremden Herren, freilich ohne die längste Zeit zu wissen, welche eigene Identität sie ins Treffen führen könnten, um sich wider die Fremdherrschaft zu erheben. Auch bei Andreevski spielt die nationale Bestimmung keine Rolle, nie spricht er von "Mazedoniern", sondern meist in einem vornationalen Begriff von nasi, den Unsrigen. Und damit sind längst nicht nur jene zumeist christlich orthodoxen Slawen gemeint, die man heute mit den Mazedoniern identifizieren mag, sondern auch Angehörige etlicher anderer Ethnien, Sprach- und Religionsgruppen.

Als das Osmanische Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts langsam zerfiel, waren es Serbien, Griechenland, Bulgarien, die um die Beute rangen und die dort lebenden Menschen schlichtweg zu verlorenen Angehörigen ihrer eigenen Ethnien erklärten. Noch bis vor 25 Jahren hat Bulgarien es den Mazedoniern bestritten, über eine eigene Sprache zu verfügen, und mit der These, dass das Mazedonische ein bulgarischer Dialekt sei, den Anspruch erneuert, dass die Mazedonier ihre wahre Heimat erst in einem Großbulgarien finden würden. Und bis vor zwei Jahren hat Griechenland jeden Versuch Mazedoniens, sich der EU anzunähern, unterbunden, weil es behauptete, durch den Namen "Republik Mazedonien" werde es seines historischen Erbes, zu dem das Makedonien Alexanders des Großen gehöre, beraubt.

Ich hole so weit aus, weil fast alles, was wir heute mit dem seit dem Zerfall Jugoslawiens selbständigen "Mazedonien" an Konflikten verbinden, mit der komplizierten wie leidvollen Geschichte dieses Landes zu tun hat; eines Landes, dem von der EU in der Flüchtlingskrise von 2015 die Rolle zugewiesen wurde, den Grenzwächter zwischen Mitgliedsstaaten der Union zu spielen. Damals wurde Mazedonien beauftragt, die Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge zu schließen, damit diese nicht in die weiter nördlich gelegenen Staaten der EU gelangen könnten. Mazedonien, das seit Jahren darauf wartet, in Beitrittsverhandlungen mit der EU zu treten, hat diese Aufgabe im berüchtigten Grenzort Idomeni so beflissen erfüllt, dass es zwar Lob aus der Union erhielt, aber zugleich vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge heftig kritisiert wurde.

Damals wurde Mazedonien von einer nationalistischen Partei mit dem aufmunternden Namen "Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation - Demokratische Partei für mazedonische nationale Einheit" regiert, einprägsam VMRO-DPMNE genannt. Deren Führer, Nikola Gruevski, hat Oppositionelle wie Parteifreunde bespitzeln lassen, Korruption in unverschämtem Ausmaß betrieben, Justiz und Medien unter seine Kuratel zu stellen versucht. Seine knappe Wiederwahl verdankte er 2016 nicht zuletzt einem Österreicher, der ihn am Tag vor dem Wahlgang besuchte und medienwirksam als wahren Europäer lobte. Sebastian Kurz war damals Außenminister, aber bereits unterwegs zur Kanzlerschaft. Diesen Weg wollte er als Held antreten, der es schaffte, die Balkanroute zu schließen. Gruevski wurde später doch aus dem Amt gejagt und hat sich vor der Gerichtsverhandlung als illegaler Flüchtling dorthin abgesetzt, wo ihm ein Gleichgesinnter in Wort und Tat eine Privatresidenz zur Verfügung stellte, in das Ungarn Viktor Orbáns.

Seither hat sich in Mazedonien einiges zum Besseren gewendet. Der abstruse Streit, mit dem Griechenland sein Nachbarland überzog, ist beigelegt, und das Land nennt sich auftragsgemäß nicht mehr Mazedonien, sondern "Republik Nord-Mazedonien". Der Konflikt mit der albanischen Minderheit, die im Westen des Landes siedelt, rund ein Viertel der Bevölkerung stellt und deren Scharfmacher bei Gelegenheit mit dem Anschluss ans albanische Mutterland drohen, wurde entschärft, das Albanische endlich als zweite Amtssprache anerkannt. Aber es ist ein fragiler Friede. Wenn er von innen oder außen bedroht wird, kann es wieder geschehen, dass Kirchen und Moscheen brennen, durch albanische Dörfer mazedonische Rowdies marodieren und in mazedonischen Dörfern albanische Schlägerbanden aufmarschieren.

Albanien wie Mazedonien streben danach, der EU beizutreten. Dem Konflikt zwischen den beiden Staaten, der sich zu einem Flächenbrand ausweiten könnte, würde die gemeinsame Zugehörigkeit zur Union vermutlich den Nährboden entziehen, wie das etwa bei den beiden Irlands der Fall war. Vermutlich. Sicher ist es nicht. Die jetzige Regierung des Landes ist ratlos, dass ihre von der EU eingeforderten Reformen sofort für bedeutungslos gelten, kaum dass sich innerhalb der Union die nationalen Regierungen über andere Themen zerstreiten und einen beliebigen Anlass benutzen, um sich gegenseitig zu bestrafen, unter Druck zu setzen, auszuspielen. Die jungen mazedonischen Schriftsteller, mit denen ich zuletzt zu tun hatte, setzen fast alle auf den Beitritt zur EU. Aber da sie "Die Quecke" als jenes Buch schätzen, in dem die ureigene Geschichte ihres Landes erzählt wird, sind sie störrisch selbstbewusst. Sie möchten nicht, dass Mazedonien widerfahre, was etwa mit Bulgarien geschehen ist: dass die gut ausgebildeten Jungen - von denen fast die Hälfte arbeitslos ist - von den reichen Staaten der Union herausgekauft werden und dem eigenen Land als Ärztinnen, IT-Experten, Wissenschaftler fehlen.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2020
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