Kolumne:Erasmus

Frei

Unter jungen Leuten wächst das Bewusstsein dafür, dass nichts garantiert ist und man etwas tun muss für Frieden und Freiheit in Europa.

Von Norbert Frei

Vor ein paar Tagen fiel mir eine alte Zeitungsseite in die Hand. Ich hatte sie einer eindrucksvollen Anzeige wegen aufgehoben, die mich auch heute noch berührt. Zum 9. November 2009, dem zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls, hatte das polnische Außenministerium in der Süddeutschen Zeitung annonciert, genauer gesagt, in ihrer englischsprachigen Beilage mit Texten aus der New York Times. Das Inserat zeigt einen freundlichen Himmel voll bunter Drachen, zart gezeichnet in den Farben Polens, Deutschlands, Ungarns, der baltischen Staaten, der Tschechoslowakei, Bulgariens und der Ukraine. Daneben heißt es: "1989: together we succeeded" ("Gemeinsam haben wir es geschafft"), darunter findet sich ein Logo, das eine Reihe europäischer Städte aufzählt, beginnend mit Danzig und Warschau, und das schließlich erklärt: "It all began in Poland" ("Alles hat in Polen begonnen").

Polens Rechtsnationale scheinen den Bogen der Demagogie überspannt zu haben

Nicht einmal acht Jahre ist das her. Doch dass die Polen sich selbst und ihre Nachbarn bei nächster Gelegenheit - sagen wir, zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls - erneut mit stolzer Freude jener Erfolgsgeschichte vergewissern könnten, die damals begann, das war bis vor ein paar Tagen kaum vorstellbar. Zu viele positive Erinnerungen schienen entwertet oder gar zerstört zu sein durch die Skrupellosigkeit, mit der die seit eineinhalb Jahren in Warschau regierenden Rechtsnationalen Politik auf Kosten und zu Lasten der Europäischen Union machen.

Jetzt aber sieht es so aus, als habe "Recht und Gerechtigkeit" (Pis), die Partei von Jarosław Kaczyński, den Bogen der Demagogie überspannt: Eine Regierung, die unlängst aus purem innenpolitischen Freund-Feind-Denken die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk, einem gebürtigen Danziger, zu verhindern suchte und die sich am vergangenen Wochenende fast bis zum Moment der Unterzeichnung gegen die gemeinsame Erklärung der EU-Mitgliedsstaaten aus Anlass des 60. Jubiläums der Römischen Verträge stellte - sie findet nun deutlichen Widerspruch auf Warschaus Straßen. Noch während Ministerpräsidentin Beata Szydło in Rom um Formulierungen feilschte, bekannten in der polnischen Hauptstadt Tausende: "Ich liebe dich, Europa!"

Selbstredend war der Warschauer "Marsch für Europa" auch, vielleicht sogar in erster Linie, ein Marsch gegen Pis; als Hauptveranstalter fungierte jedenfalls das nach dem Wahlsieg der National-Autoritären ins Leben gerufene "Komitee zur Verteidigung der Demokratie". Aber dass es den Kritikern der Regierung gelang, so viele Menschen nicht nur unter der polnischen Fahne, sondern auch im Zeichen des blauen Banners der EU zu versammeln, das Szydło bei ihrem ersten offiziellen Auftritt im Oktober 2015 demonstrativ hatte entfernen lassen, das deutet auf mehr: Vor allem den jungen Polen gilt die Europaflagge als ein Signal ihrer Weltoffenheit.

Rund drei Viertel der 15- bis 24-Jährigen sind einer neuen Umfrage zufolge der Auffassung, Polens Mitgliedschaft in der EU sei "insgesamt eine gute Sache". Das sind zwar nicht so viele wie in Deutschland, wo erstaunliche 87 Prozent der Jungen zur EU stehen, aber noch ein paar Prozentpunkte mehr als in Tschechien oder in der Slowakei - und nur drei Punkte weniger als in Ungarn, wo sich fast vier Fünftel der jungen Menschen, Viktor Orbán zum Trotz, als Europafreunde zu erkennen geben. Dazu gehört in Ungarn auch Mut.

Solche Zustimmungswerte lassen sich nicht erklären, in dem man auf eine vermeintlich erkaufte Begeisterung der akademischen Jugend verweist, die überall in Europa von Erasmus profitiert, einem in seinen Dimensionen zwar weltweit einzigartigen, aber dennoch natürlich begrenzten Stipendienprogramm. Viel plausibler ist die Vermutung, dass die Idee des Austauschs über Grenzen, die dieser Tage ihren dreißigsten Geburtstag feiert und inzwischen auch Auszubildende, Berufsschüler und junge Unternehmer erreicht, weit über die tatsächlichen Teilnehmer hinauswirkt: indem sie Optionen verdeutlicht, Freiheitsräume eröffnet und Rollenbilder neu definiert. In Europa ungehindert unterwegs zu sein, ist auch dadurch Bestandteil unserer Identität, unseres Selbstverständnisses geworden.

Anders als es die übliche Erzählung will - und zumal die abschätzige Diagnose seiner Gegner -, war Europa nach 1945 mitnichten nur ein Elitenprojekt. So gewiss der Weg vom Schuman-Plan (1950) über die Montanunion (1952) zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957) der Fantasie und Initiative weise gewordener Staatsmänner aus der Zwischenkriegszeit bedurfte (ja, es waren meist alte weiße Männer), so nützlich war doch auch der Enthusiasmus der vormaligen Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs, die im Sommer 1950 an der deutsch-französischen Grenze demonstrierten. Monnet, Adenauer und De Gasperi wussten - jedenfalls, wenn es um Europa ging - eine drängende junge Generation an ihrer Seite.

Auch deshalb ist es gut zu sehen, dass das Projekt Europa im Moment seiner tiefsten Krise Zuspruch von unten bekommt. "Pulse of Europe", vor ein paar Wochen aus dem Nichts entstanden, könnte eine europäische Bürgerbewegung werden: nicht bloß Antwort auf Pegida und die Rechtspopulisten jedweder Nationalität, sondern Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach politischer Selbstverortung. Viele, die neuerdings sonntags zu den Kundgebungen gehen, spüren - oft zum ersten Mal in ihrem Leben -, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeiten sind. Wer dem "Pulsschlag" auf Facebook folgt, der mag natürlich fragen, wie lange es gelingen kann, freundlich und weitgehend forderungslos "positive Energie" auszusenden, "die den aktuellen Tendenzen entgegenwirkt". Doch ist das Grund genug, die Initiative als einen Propaganda-Coup bankennaher Frankfurter Rechtsanwälte zu denunzieren? Vielen erscheint die Aktion vermutlich gerade deshalb so hoch an der Zeit, weil sie es erlaubt, endlich einmal für etwas zu demonstrieren - um am Ende hoffentlich sagen zu können: "It all began with Pulse."

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